Ein Regenschirm furr diesen Tag
so tief in mir, daß ich diffus im Zimmer umhergehe und die Schranktür öffne. Ich mag es, mit bloßen Füßen über den Teppichboden zu gehen, aber meine Zehennägel darf ich dabei nicht anschauen. Das Öffnen der Schranktür war ein weiterer Fehler. Noch vor zwei Monaten wären mir solche Fehler nicht unterlaufen. Hier, in diesem jetzt fast leeren Schrank, hingen bis vor etwa acht Wochen die Kleider von Lisa. Ich erinnere mich, wie ich früher auf dem Bett lag und Lisa dabei zuschaute, wie sie ein Kleid oder eine Bluse aus dem Schrank nahm und anprobierte und mich nach kurzer Zeit fragte, ob sie mir immer noch gefalle. Gewöhnlich lachte ich nach dieser Frage, weil es für mich keine überflüssigere Frage gab. Seit ungefähr zwei Monaten ist das Herumliegen auf dem Bett für mich problematisch geworden. Lisa wohnt nicht mehr hier, sie hat mich verlassen. Solange sie hier lebte, war das Nachhausekommen für mich das Wohlgefallen, das den Menschen auf Erden versprochen ist. Und ich hatte ein halbes Menschenleben auf dieses Wohlgefallen gewartet, seit ich im Kindergottesdienst erstmals von ihm gehört hatte. Jetzt ist dieses Wohlgefallen verschwunden. Aus Versehen schaue ich doch auf meine nackten Füße und spüre die Propaganda der Verlassenheit, die von ihrem Anblick ausgeht. Früher konnte ich damit aufhören, mein Leben zu verdächtigen, sobald ich die Wohnung betrat. Das scheint endgültig vorbei zu sein. Dabei halte ich es immer noch für möglich, daß Lisa mich nur vorübergehend verlassen hat, um mich zu zwingen, mich endlich um einen ›besseren Hintergrund‹ zu kümmern. Sie meinte damit meine mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt, die ich ebenfalls beklage, jedenfalls oft, wenn auch immer seltener. Meistens habe ich nicht mehr die Kraft, diesem verworrenen Problem ins Auge zu blicken. Das heißt, ich verstehe sein verwickeltes Zustandekommen über die Jahre hin nicht mehr und kann das Ergebnis deswegen oft nicht anerkennen, obwohl ich selbst dieses Ergebnis bin. Im Augenblick denke ich an das Kind, das in den Schauräumen des Autohauses Schmoller herumgelaufen ist. Diese Unlust meinen Problemen gegenüber ist typisch für mich. Ich weiß auch, daß ich nicht wirklich an das Kind im Autohaus denke. Das Kind ist nur eine verpuppte Erinnerung an mich selbst. Prompt fällt mir ein, wie ich als Kind versucht habe, den verschleierten Mund meiner Mutter zu küssen. Meine Mutter trug damals einen dunkelblauen flachen Hut mit schmaler Krempe. In der Krempe eingerollt war ein Netz, das sie sich gern über das Gesicht zog. Hinter dem dicht aufliegenden Schleier erschienen Lippen und Wangen ein wenig platt gedrückt, auch die Nasenspitze. Diese kleinen Verunstaltungen waren vermutlich der Grund dafür, warum ich dann plötzlich keine Lust mehr hatte, die Mutter zu küssen. Ich küßte sie aber trotzdem, und ich spürte deutlich statt der Haut der Mutter deren Verschnürung durch das Netz. Die Eingepacktheit der Lippen übertrug sich für eine Weile auf meine eigenen Lippen, was mir anfangs gefiel. Ich küßte die Mutter, um bei mir selbst das Hautgefühl der Verschnürung zu erzeugen. Nein, das stimmte so nicht. Das Gegenteil war der Fall. Ich wandte mich immer mehr von der Mutter ab, weil sie mir statt ihres Mundes mehr und mehr eine Netzverschnürung anbot. Ich verdächtigte sie, daß sie die Zuneigung der Familie zurückweisen wollte. Denn ich hatte schon beobachtet, daß auch der Vater und mein Bruder nicht über Netzküsse hinauskamen. Nein, das stimmte so auch nicht. Die Wahrheit ist, daß ich nicht mehr genau weiß, was sich wirklich ereignet hat. Die Unklarheit über diesen Punkt reicht mir aus, um mich ein bißchen zu beschimpfen. Es kann gar nicht mehr lange dauern, denke ich, dann wirst du in eine Lügenheilanstalt eingeliefert. Denn die Wahrheit hinter der Wahrheit ist, daß ich natürlich hundertprozentig zu wissen meine, was sich tatsächlich ereignet hat und was nicht. Ich habe ein Interesse an verschiedenen Wahrheitsversionen, weil ich es schätze, vor mir selber ein wenig verwirrt zu erscheinen. Die Wahrheit hinter dieser Wahrheit ist jedoch, daß ich die Annahme meiner eigenen Verwirrtheit gar nicht ertrage und sie dann doch für wahr und wirklich halte. Die Erfindung des Wortes Lügenheilanstalt amüsiert mich, obwohl sie mich vermutlich alarmieren sollte. In dem plötzlichen Zusammenstoß meines Gedächtnisschwunds mit meiner Verwirrung und vielleicht meiner Verrücktheit sehe ich an
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