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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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persönlich noch etwas übrigblieb.
    Der Tag rückt näher, an dem ich meine Hemmung vor Lisas Geld werde aufgeben müssen, egal wie. Lisa hat das Konto, auf das ihr die Rente überwiesen wurde, nicht aufgelöst. Es fehlen nur die Überweisungen für die beiden letzten Monate, für die es offenkundig ein neues, mir unbekanntes Konto gibt. Wenn ich diese Zeichen richtig deute, dann überläßt mir Lisa kommentarlos das auf dem alten Konto angesammelte Geld. Es handelt sich um eine Art Abfindung für mich, von der ich, wenn ich sparsam wirtschafte, noch gut zwei bis zweieinhalb Jahre werde leben können. In dieser Zeit muß es mir endgültig gelingen, mich auf eigene Füße zu stellen. Anfangs war ich von Lisas Großmut begeistert und gleichzeitig geschmerzt. Wie soll ich mich von einer Frau lösen, die sich mit einer fast unbegreiflichen Großherzigkeit ungefähr zweieinhalb Jahre lang von mir verabschiedet? Vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, daß die Abfindung auch ein klug eingefädeltes Manöver ist. Ich merke, wie sehr mich Lisas Spende einschüchtert. Es ist nicht möglich, sich als Mann mit dem Geld einer Frau über Wasser zu halten, wenn das Wohlwollen der Frau gleichzeitig nicht mehr da ist. Die Scham ist so mächtig, daß ich mich zur Zeit nicht traue, Renates Nummer zu wählen und mich nach Lisa zu erkundigen. Lisa ist mit einem erkauften Schweigen aus meinem Leben verschwunden. Sie weiß, daß mir die Kraft (die Unverschämtheit, die Dummheit) fehlt, die Scham zu durchbrechen und das Schweigen zu beenden. Ich hatte nie geglaubt, daß Lisa so kühl kalkulieren kann. Natürlich muß ich noch eine Weile warten, bis sich diese Ansicht der Ereignisse als gesichert durchgesetzt hat. Es ist immer noch möglich, daß Lisa ihr Geld auf dem alten Konto doch noch komplett abhebt und das Konto dann auflöst. Es kann auch sein, daß Renate sie in dieser Richtung beeinflußt oder gar unter Druck setzt. Immerhin hat Renate ihr schon vor Jahren empfohlen, sich von mir zu lösen. Am anderen Ende des Flurs klingelt das Telefon. Wahrscheinlich ist es Habedank, der Disponent der Schuhmanufaktur Weisshuhn, der auf meine Testberichte wartet. Wenn ich mich noch ein paar Tage länger nicht melde, gefährde ich meinen Job. Woher soll ich jetzt den Schwung nehmen, mit Habedank zu reden? Als Lisa noch hier war, war auch das Telefon kein Problem. Sie kannte mich und meine Auftraggeber, sie ging an den Apparat und wußte ohne Absprache, wen sie mit welcher Geschichte anlügen mußte, um mich und meine Stimmungen zu schützen. Ich lasse das Telefon klingeln, ich weiß nicht, was ich sagen sollte, zu wem auch immer. Gleichzeitig verrät mich das Klingeln. Habedank kennt meine Lebensgewohnheiten, er weiß, daß ich zu Hause bin und immer öfter zu Hause bleibe, ich habe es ihm selbst gesagt, weil ich mich nicht mehr so gut beherrschen kann wie früher. In Wahrheit überfällt mich immer öfter eine Schweigelust, die mir ein bißchen angst macht, weil ich nicht weiß, ob soviel Schweigen, wie ich es zum Leben brauche, noch normal ist oder vielleicht der Beginn meiner inneren Krankheit, die mit Zerbröckelung oder Zerfaserung oder Ausfransung nur mangelhaft bezeichnet ist. Ich schaue auf den Boden und betrachte die da und dort herumliegenden Staubflusen. Wie sonderbar heimlich sich der Staub vermehrt! Plötzlich fällt mir ein, daß Verflusung vielleicht das richtige Wort für den gegenwärtigen Stand meines Lebens ist. Genau wie eine Staubfluse bin auch ich halb durchsichtig, im Kern weich, äußerlich nachgiebig und übertrieben anhänglich und außerdem schweigsam. Neulich hatte ich die Idee, ich werde an alle Leute, die ich kenne beziehungsweise die mich kennen, einen Schweigestundenplan verschicken. Auf diesem Plan steht genau, wann ich reden will und wann nicht. Wer sich nicht an den Schweigestundenplan hält, wird überhaupt nicht mehr mit mir sprechen können. Für Montag und Dienstag ist/wäre DURCHGEHENDES SCHWEIGEN angeordnet. Mittwochs und donnerstags herrscht nur morgens DURCHGEHENDES SCHWEIGEN, an den Nachmittagen GELOCKERTES SCHWEIGEN, das heißt, es sind Kurzgespräche und Kurzanrufe erlaubt. Nur freitags und samstags bin ich/wäre ich zu haltlosem Gerede bereit, allerdings erst ab elf Uhr. An Sonntagen besteht TOTALES SCHWEIGEN. Die Wahrheit ist, daß der Schweigestundenplan schon weitgehend ausgearbeitet war und daß ich ihn um ein Haar verschickt hätte. Sogar die Adressen auf den Briefumschlägen hatte ich schon

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