Ein Regenschirm furr diesen Tag
diesem Tag den ersten Hinweis, daß vielleicht eine Erkrankung in meinem Inneren heranwächst. Vermutlich nur deswegen suche ich Anschluß an eine kleine praktische Tätigkeit. Ich gehe ins Badezimmer und putze mir zum zweiten Mal heute die Zähne. Während des Zähneputzens betrachte ich die beiden angestaubten Parfümflakons, die Lisa zurückgelassen hat. Die beiden Fläschchen stehen schon seit Jahren auf der Glasscheibe unterhalb des Spiegelschränkchens. Lisa benutzte Parfüm so gut wie nie. Sie hat nie versucht, mich auf irgendeine künstliche Weise zu locken. Unser letzter Versuch eines Beischlafs ist uns auf wunderliche Weise entglitten. Wir lagen eine Weile nebeneinander, ich mit dem Gesicht zwischen ihren Brüsten, was uns so gut gefiel, daß wir nach kurzer Zeit einschliefen. Es war, als hätten wir plötzlich gemeinsam vergessen dürfen, daß es Sexualität gab. Als wir aufwachten, lagen wir eingehenkelt nebeneinander wie ein älteres Ehepaar. Mit Lisa zusammen war es mir möglich, auf eine nachträgliche Genehmigung des Lebens durch mich selber zu verzichten.
Wahrscheinlich müßte ich Lisa anrufen und sie fragen, ob sie die beiden Parfümflakons noch abholen wird. Oder ob sie sie vergessen hat, vielleicht ein bißchen absichtlich, als Reliquien des Trostes, die ich jeden Tag anschauen darf. Bei dieser Gelegenheit könnte ich mich kühl danach erkundigen, wann sie zurückkehren wird. Lisas gegenwärtige Telefonnummer ist mir bekannt. Sie wohnt bei ihrer besten Freundin Renate, jedenfalls vorübergehend, bis sie eine eigene neue Wohnung gefunden hat. Auch Renate ist Lehrerin, genau wie Lisa. Das heißt, Lisa war Lehrerin gewesen, bis vor etwa vier Jahren. Lisas Berufsleben war kaum mehr als ein langsames Vertrautwerden mit ihrem Zusammenbruch gewesen. Lisa hatte es nicht hinnehmen wollen, daß sie mit den Kampfkindern der Gegenwart nicht zurechtkam. Sie hatte geglaubt, sie könnte aus den schlagenden, beißenden und kratzenden Schülern Menschen machen, die ihr selber ähneln. Ein grausiger Irrtum! Ein schleichendes Nervenleiden hat sie nach zwölf Jahren Arbeit zur Berufsaufgabe gezwungen. Zuerst war sie freigestellt, dann beurlaubt, dann frühpensioniert. Lisa ist jetzt zweiundvierzig Jahre alt und bezieht eine Rente dafür, daß sie sich für ihre Ideale, für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat. Die viel geschmeidigere Renate wird vermutlich nicht scheitern oder erst angemessen spät. Es ist mir nicht recht, daß Lisa bei ihr wohnt. Renate ist neugierig, und Lisa wird, schon aus Dankbarkeit für die Bleibe, dann und wann Intimitäten preisgeben. Lisa wird das selbst nicht wollen, aber sie wird meinen, daß sie keine Wahl hat. Durch Lisas Schilderungen wird Renate den Eindruck gewinnen, daß nicht nur Lisas, sondern auch mein Leben gescheitert ist. Diese Vorstellung wird dazu führen, daß ich mit Renate überhaupt nicht mehr sprechen will. Und in der Art, wie ich ihr aus dem Weg gehen werde, wird Renate eine Bestätigung sehen, daß ich gescheitert bin. Ich wiederum werde nicht wollen, daß sich in Renate diese Vorstellung festsetzt. Also werde ich auch weiterhin Renate nicht aus dem Weg gehen, obwohl ich gerade dies sehr gern möchte. Ich höre Schluchzer in der Wohnung, aber es sind nur die Gluckser im Warmwassergerät. Dennoch gehe ich in der Wohnung umher und suche nach Lisa. Ich weiß, sie ist nicht hier, ich weiß, es ist idiotisch, daß ich nach ihr schaue. Manchmal weinte Lisa aus Verzweiflung über mich. Das Weinen brach aus ihr hervor, wenn sie sich die Haare gewaschen hatte. Dann saß sie da, ein Handtuch um den Kopf gewickelt, ein weiteres Handtuch gegen das Gesicht gedrückt, ein drittes Handtuch um die Schultern geschlagen, und weinte. Ich setzte mich neben sie, hielt manchmal ihre Hand, was sie sich gern gefallen ließ, und überlegte doch nur, ob es zwischen dem Weinen und dem Haarewaschen einen Zusammenhang gab oder nicht. Ich wasche mir viel seltener das Haar und weine vielleicht deswegen so gut wie nie. Durch haarsträubende Sätze dieser Art entsteht jetzt in mir die Vorstellung, daß ich nachmittags nicht mehr richtig lebe. Im Prinzip lebe ich nur noch vormittags, wenn ich umhergehe und dabei ein wenig Geld verdiene, was in den kommenden Tagen wieder geschehen wird. Nachmittags findet eine Art Zerbröckelung meiner Person statt, gegen die ich wehrlos bin, eine Zerfaserung oder Ausfransung. Ich vergesse dann, daß es im Leben Hauptsachen und
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