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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ist klar, daß dieser Konflikt mir die Luft abdrücken oder mich krank machen wird, was in meinem Fall dasselbe bedeutet. Dabei begreife ich nicht einmal, warum ausgerechnet mein Leben der Schauplatz eines derart niederträchtigen Zusammenpralls sein soll. Über Jahrzehnte hin habe ich mir viel Mühe gegeben, ohne Zerwürfnisse zu leben, und ich war lange Zeit erfolgreich. Schon als Kind habe ich damit angefangen, mir einen harmonischen Alltag aufzubauen. Die ersten Jahre meines Lebens liefen nach diesem Schema ab: Ich stand morgens auf, spielte eine Weile im Schlafanzug und frühstückte dann mit meiner Mutter. Danach ging ich eine halbe Stunde auf die Straße, traf auf dem Spielplatz meine Freunde und durchstreifte mit dem einen oder anderen das nahe Ufervorland, das ich gerade wieder verlasse. Danach trennte ich mich von meinen Freunden, ging nach Hause und wurde dort von meiner Mutter freundlich empfangen. Am nächsten Tag dasselbe von vorne. So ungefähr verlief mein Leben in den ersten Jahren. Meine Mutter schien mit dieser Ordnung einverstanden zu sein, was jedoch ein Irrtum war. Denn bald beendete ausgerechnet sie mein friedliches Leben bei ihr zu Hause und steckte mich in einen Kindergarten. Plötzlich waren sechsundzwanzig fremde Kinder um mich herum, die ich nie habe kennenlernen wollen. Zum ersten Mal gab es etwas, was ich nicht verstand. Das heißt, ich brachte es nicht in Übereinstimmung mit dem, was ich vom Leben und von meiner Mutter bis dahin verstanden zu haben glaubte. Ich brach diesen Versuch des Verstehens ab und suchte nach einem anderen Anfang, der besser zu dem bereits Verstandenen paßte. Auf diese Weise entstand die Vorstellung, daß ich von fast allem, was geschieht, immer nur dessen Anfang begreife. Bald war ich in viele, sich übereinanderschichtende Verstehensanfänge verstrickt, von denen ich nicht mehr sagen konnte, was sie mir eigentlich hatten erklären sollen. Bis heute breche ich das Verstehen ab, beziehungsweise ich gerate in eine Stimmung des kindlichen Wartens, wenn die Kompliziertheit überhandnimmt und ich auf einen neuen Anfang des Begreifens angewiesen bin. Das Problem dabei ist die riesige Menge des nur anfänglich Verstandenen, das sich in meinem Geist anhäuft. Ich gehe durch das strohige, unter der Sonnenbestrahlung fast schon brüchig gewordene Gras des Ufervorlands. Als Kind streifte ich allein oder mit zwei Freunden durch das Gelände und fühlte halbe Tage lang nichts als die sanfte Berührung der Gräser an den Knien. Ich paßte auf, daß ich nicht mit Brennesseln zusammenstieß, ich liebte das Wort Rhabarber, und ich begann, mich von Sauerampfer und Löwenzahn zu ernähren. Sobald ich hier umherging, tauchte ich ein in eine innere Hingerissenheit, die ich sonst nirgendwo fand. Denn das Gras um mich herum mußte ich nicht verstehen. Vermutlich trat ich in diesen Stunden schon unvorstellbar weit in die Merkwürdigkeit des Lebens ein, die bis heute anhält. Alles, was dauert, muß seltsam werden. Ich lasse das Ufervorland hinter mir und biege nach links ab in Richtung Umgehungsstraße. In einem Supermarkt werde ich mir ein kleines Brot und ein Päckchen Spaghetti kaufen. Ich bin dazu übergegangen, mir nur noch zwei Lebensmittel gleichzeitig zu kaufen, also etwa Obst und Butter, Milch und Kaffee oder Brot und Spaghetti. Es erschreckt mich mittlerweile jeder Einkauf, der mich mehr als zehn Mark kostet. Wenn ich dagegen nur zwei Lebensmittel nach Hause trage, habe ich das Gefühl, wieder einmal richtig gehandelt zu haben. In der Dürerstraße wird ein neues Haushaltswarengeschäft eröffnet. Über dem Eingang baumeln Luftballons, ein als Zirkusdirektor verkleideter Angestellter spielt Drehorgel, eine Dame bietet Häppchen an, eine andere schenkt Sekt an die Passanten aus. Der Straßenalkoholismus lockt mich, ich habe schon das zweite Glas in der Hand. Die Häppchen sind mit kaltem Braten, Schinken und Lachs bestückt. Wenn ich es geschickt anstelle, kann ich das Problem des Mittagessens hier im Vorübergehen und auf Kosten des Einzelhandels lösen. Außerdem interessiert mich ein jugendlicher Mongoloider, der sich zur Drehorgelmusik im Kreis dreht und dabei in die Hände klatscht. Wie viele Behinderte trägt auch er Ringelsöckchen und einen viel zu engen Pullover. Den Angestellten des Haushaltswarengeschäfts entgeht nicht, daß der Behinderte die Leute mehr fesselt als die Geschäftseröffnung. Mir gefällt sein glücklich-leeres Gesicht, seine bärenartig tumb

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