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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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an, auf diese Weise bändigte meine Mutter ihren Schreck, daß ihr die Welt nicht sehenswert erschien. Inmitten der Erinnerung entsteht in mir das Gefühl der Genügsamkeit. Momentweise glaube ich, es wird genug sein, wenn ich mich ein- oder zweimal in der Woche hier ins Gras setze und auf den Fluß schaue. Ein Zitronenfalter flattert über die Spitzen der Grashalme. Ich habe mich nie dafür interessiert, ob es eine Seele gibt oder nicht, aber plötzlich spiele ich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht eine habe. Dabei weiß ich nicht, was eine Seele ist und wie man über sie sprechen könnte, ohne sich zu genieren. Aber ich würde gerne wissen, was ich tun muß, damit sie keinen Schaden nimmt. Damit sie keinen Schaden nimmt! So denke ich und schäme mich nicht der pathetischen Einfalt. Wahrscheinlich ist Seele nur ein anderes Wort für Unbehelligtheit. Sie ist ein kleines buntes Karussell, auf das ich, wenn ich hier im Gras sitze, immer gerade aufspringe. Die Seele sagt dazu nichts, aber ich merke, wie sie immer gerade zum Sprechen anhebt. Wahrscheinlich wird sie niemals etwas sagen, sondern immer nur ein paar Bilder herzeigen: das sich ängstlich küssende Paar, der leere Koffer und die Erinnerung an die Mutter. Im Augenblick interessiere ich mich nur für die Fusseln, die sich immer wieder in meiner Jackentasche bilden. In der Nacht von gestern auf heute bin ich nicht verrückt geworden. Ich habe die auf der Straße aufgesammelten Platanenblätter in Lisas Zimmer ausgebreitet. Ich habe lange auf die Blätter geschaut, und sie haben mir sehr gut gefallen. Ich überlege, ob es gut sein wird, wenn ich Blätter eines bestimmten Baumes oder wenn ich Blätter verschiedener Bäume mit in die Wohnung nehme. Im Augenblick bin ich nur ein wenig davon eingeschüchtert, weil es Mittag wird und ich Hunger verspüre. Ich muß sparen und möchte auf den Besuch teurer Lokale verzichten. Freilich habe ich auch die Nase voll von Bistros und Imbiß-Theken. Noch heute zittern ein paar Erlebnisse in mir nach, die mir vor ein paar Tagen zugestoßen sind.
    Ich betrat gegen dreizehn Uhr ein Schnellbuffet und reihte mich ein in eine Schlange hungriger Menschen. Bald merkte ich, daß die Frau hinter der Theke die Menschen, die sie bediente, nicht anschaute. Sie hob nicht mehr das Gesicht, sie sagte immer nur ›der nächste‹, sobald sie einen Teller auf der Glastheke abgestellt hatte. Die Nichtangeschauten nahmen rasch die ihnen zugewiesenen Portionen an sich und verteilten sich an die kleinen Stehtische ringsum. Jetzt erkannte ich, daß das Nichtangeschautwerden zur Folge hatte, daß sich auch die Essenden untereinander nicht anschauten. Erst im Augenblick, als ich meinen Teller abstellte, erschrak ich darüber, daß ich schon wieder ein Billigmenü in einem Billigbuffet zu mir nahm. Aus Scham aß ich schneller. Schon schloß ich aus Peinlichkeit die Augen, wenn ich mir die Gabel in den Mund schob. Das Schließen und Wiederöffnen der Augen ließ mich jedoch affektiert erscheinen. Nach ein paar Minuten zwang mich die Affektiertheit zum Abbruch des Essens. Ich tat so, als sei das Menü zu schlecht für mich. Ich schob den Teller wie ein schlechter Schauspieler in die Mitte des kleinen Tisches und wandte mich ab. Im Wegdrehen merkte ich, daß mindestens zwei der Essenden mein Gehabe nicht ernst nahmen. Sie hatten heimlich erkannt, daß ich, ach, ich weiß nicht, was sie erkannt hatten. So etwas darf mir auf keinen Fall noch einmal passieren. Auch dann, wenn man Ärmel an Ärmel mit anderen Menschen lebt, braucht man die Unangefochtenheit eines Mönchs. Ein wenig stöhnend stehe ich auf und klopfe mir ein paar Gräser von der Jacke. Ich werde die Pferdeleder-Schuhe während des Heimwegs testen. Schon nach ein paar Schritten merke ich, daß es kaum etwas gibt, was ich mehr vermisse als die Unangefochtenheit eines Mönchs. Im langen Umherschauen hat meine Genügsamkeit ihren Namen gewechselt. Sie heißt jetzt Saumseligkeit und darf mich unter diesem Namen wieder neu erschrecken. Es ist wahr, ich bin zu lahm. Meine Umständlichkeit und meine Zerfahrenheit werden mich umbringen. Dabei darf ich mich bei niemandem über diese Eigenschaften beschweren. Ich muß sie hinnehmen und hoffen, daß sie mit der Zeit etwas von ihrer Unmöglichkeit verlieren. Aber die Zeit vergeht, und meine Eigenschaften bleiben. Beinahe von Woche zu Woche werden sie unmöglicher. Ich muß die Zerstreutheit abtöten und weiß doch, daß ich ohne sie nicht leben kann. Es

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