Ein Regenschirm furr diesen Tag
vorgetragene Zufriedenheit. Alle quälen sich ab, nur der Behinderte sonnt sich im Glück seiner Abweichung. Zum zweiten Mal nehme ich mir eine Scheibe Weißbrot mit Braten. Als der Behinderte Sekt trinken will, nimmt ihm eine ältere Frau, wahrscheinlich die Mutter, abrupt das Glas aus der Hand. Er scheint diese Zurechtweisung nicht zu bemerken und tanzt weiter. Eine Verkäuferin fragt mich, ob sie mir die Geschenkabteilung zeigen darf. O ja, gern, sage ich und ärgere mich, weil ich mich so schnell habe von meinen Interessen ablenken lassen. Aber da tritt Susanne von hinten an mich heran und rettet mich.
Man sieht sich nie, oder man sieht sich dauernd, ruft sie aus und drängt sich zwischen die Verkäuferin und mich.
Beides ist wahrscheinlich nicht gut, sage ich und biete Susanne mein Glas.
Was machst du gerade? fragt Susanne.
Ich überlege, ob ich diese Kundenabfütterung zu einem Mittagessen ausbauen soll oder nicht.
Das überlegen hier fast alle, sagt Susanne.
Du auch?
Nein, sagt Susanne, ich geh in das NUDELHOLZ, willst du nicht mitkommen?
Ist das ein Eßlokal?
Ja, ganz nett und nicht teuer.
Ich gebe mein Sektglas an die Verkäuferin zurück und mache mich mit Susanne auf den Weg.
Man hält mir im NUDELHOLZ einen Tisch frei, sagt Susanne, weil ich zwei- oder dreimal in der Woche dort zu Mittag esse.
Es gelingt mir, meine Testschuhe unauffällig ein wenig tiefer in meiner Leinentasche zu versenken, weil ich nicht über meinen Job reden will, jedenfalls nicht jetzt. Susanne trägt eine dunkle enge Bluse und einen eleganten grauen Rock mit ein paar schwarzen Knöpfen an der Seitenfalte. Susannes Busen ist in den letzten Jahren üppiger geworden. Zwischen ihren Schneidezähnen haben sich kleine Leerräume gebildet. Susanne geht mit forschen Schritten voran und klagt über ihre Kollegen.
Du glaubst nicht, sagt sie, was für Langweiler und Einfaltspinsel die Anwälte sind.
Ich beobachte kurz ein junges Paar, das sich zu seinem im Kinderwagen sitzenden Kind hinabkniet und mit dem Kind zusammen eine Bratwurst ißt. Susannes Zungenspitze wandert vom linken Mundwinkel zum rechten und wieder zurück. Auch dann, wenn sie nicht spricht, schließt Susanne nicht die Lippen. Das empörende Sprechen gibt ihrem Gesicht Form und Dringlichkeit. Das NUDELHOLZ ist ein kleines, fast enges Lokal. In einem einzigen langgezogenen Raum stehen rund zwei Dutzend Tische, von denen etwa die Hälfte besetzt ist. Wir setzen uns nahe ans Fenster, ich lese in der Speisekarte. Susanne schmäht noch immer die Anwälte in ihrem Büro. Ich beobachte an einem Nebentisch einen älteren Mann, dem eine Kartoffel auf den Boden gefallen ist. Er versucht, die Kartoffel mit der rechten Schuhspitze unter seinen Tisch zu schieben. Ich überlege, ob Susanne das Thema wechselt, wenn ich sie auf den Mann aufmerksam mache. Statt dessen sagt sie zu mir: Wenn du dich entschieden hast, was du essen willst, mußt du die Speisekarte schließen, damit der Kellner weiß, daß er zu uns an den Tisch kommen kann. Folgsam schließe ich die Speisekarte. Mein Blick ruht starr auf der heruntergefallenen Kartoffel. Wenig später entschuldigt sich Susanne.
Nimm mir die Bemerkung nicht übel, sagt sie, ich hatte heute morgen ein paar Einblicke zuviel in die Niedrigkeit des Lebens.
Schon gut, mache ich.
Susanne nimmt ein paar Schlucke Wasser und betrachtet die Leute, die draußen vorübergehen.
Das Elend der Massen, sagt Susanne (sie sagt wirklich: Das Elend der Massen, ich staune), beruht darauf, daß alle diese armen Leute in ihrem ganzen Leben keinen bedeutenden Menschen kennenlernen. Verstehst du?
Ich nicke und trinke ebenfalls etwas Wasser.
Alle diese Wenzels und Schrothoffs und Seidels (das sind Namen ihrer Kollegen), sagt Susanne, kennen nur andere Wenzels, Schrothoffs und Seidels, dadurch entsteht die Begeisterung für das Durchschnittliche.
Ich stimme Susanne lebhaft zu.
Susanne bestellt Pasta mista, ich begnüge mich mit einem preiswerten Risotto.
Auch ich bin von der Mittelmäßigkeit bedroht, sagt Susanne, obwohl ich mir Mühe gebe, allem Gewöhnlichen aus dem Weg zu gehen. Manchmal sitze ich abends im Bett und muß weinen, weil ich nie wieder Theater spielen kann. Meiner Freundin Christa geht’s genauso. Was wollte die alles machen! Philosophie wollte sie studieren, weite Reisen wollte sie machen. Jetzt sitzt sie am Ufer eines stinkigen Baggersees und liest die Fernsehzeitschrift! Und Martina erst! Sie gibt ihr Geld für Klamotten und Kosmetik
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