Ein Regenschirm furr diesen Tag
Eisenbahnen aus den fünfziger Jahren reden.
Die Firma muß leider sparen, sagt er statt dessen.
Mir fällt dazu nichts ein; ich warte auf seinen nächsten Satz.
Ich will damit sagen, sagt Habedank, daß ich Ihnen in Zukunft pro Trageeinheit, also pro Paar Schuhe, nur noch fünfzig Mark zahlen darf.
Das ist aber drastisch, sage ich.
Die Situation hat sich geändert.
So plötzlich?
Ja, sagt Habedank, wir haben mächtig Konkurrenz bekommen; der Luxus prosperiert, das merken auch andere.
Ahh so, mache ich.
Zum Ausgleich dürfen Sie die von Ihnen geprüften Schuhe behalten, sagt Habedank.
Im Büro ist es jetzt still. Plötzlich weiß ich, warum Frau Fischedick und Herr Oppau die ganze Zeit den Raum nicht verlassen haben. Sie wollten hören, wie Habedank sich ausdrückt, nein, sie wollten sehen, wie ich die Herabstufung aufnehme. Dabei gibt es nichts zu sehen. Ich überlege nur, ob Habedank mir eigentlich mitteilen wollte, daß ich selber den Job aufgeben möge. Aber warum hat er mir dann vier Paar neuer Schuhe ausgehändigt? Offenbar legt man auch in Zukunft Wert auf meine Arbeit, allerdings nur zu einem Viertel des alten Preises, wenn ich einmal von dem Warengeschenk absehe. Aber was soll ich mit soviel neuen Schuhen anfangen? Ich werde sie horten oder verschenken müssen.
Es tut mir leid, sagt Habedank, ich habe diese Honorarkürzung nicht beschlossen, ich muß sie Ihnen nur mitteilen.
Ich nicke. Genaugenommen bin ich nicht wirklich überrascht. Es sind solche Situationen, die zur Entstehung meines Gefühls beigetragen haben, daß ich ohne innere Genehmigung lebe. Situationen dieser Art habe ich schon oft durchlebt. Ich habe nicht einmal Lust, die Sätze zu wiederholen, die ich nach solchen Erlebnissen schon oft gedacht habe und die ich auch jetzt wieder denken könnte. Unglück ist langweilig. Ich warte, ob Habedank mich zum Kaffeetrinken in der Kantine auffordert. Aber die Aufforderung bleibt heute aus. Offenbar handelt es sich dabei um ein Stück Einfühlung in meine Lage. Habedank knüllt ein Stück Cellophanpapier zusammen und legt es auf die Schreibtischplatte. Das zusammengepreßte Knäuel knistert langsam wieder auseinander. Im Augenblick, als ich dem Knistern zuhören möchte, stehe ich auf und sage zu Habedank: In etwa drei Wochen haben Sie die neuen Gutachten.
Eine Minute später warte ich auf die S-Bahn, mit der ich nach Hause fahren werde. An einer Pommesbude kauft sich ein Behinderter eine Dose Bier. Der Mann hat keine Arme, dafür aber Hände, die dicht an den Schultern angewachsen sind. Vier Schritte neben mir versuchen zwei Krähen, mit ihren Schnäbeln einen mit Abfällen gefüllten Plastiksack aufzureißen. Mit der rechten Schulterhand (oder soll ich besser Hand-Schulter sagen?) drückt sich der Behinderte die Dose gegen den Hals und öffnet sie mit den Zähnen. Die Krähen haben den Plastiksack geöffnet. Sofort fliegen Orangenschalen, Joghurtbecher und Pizzakartons auf dem Bahnsteig herum. Das öffentliche Elend ist widerlich, aber es drückt auch mein Grauen aus. Gibt es eine allgemeine Verwahrlosung, oder gibt es keine allgemeine Verwahrlosung? Für beide Möglichkeiten sehe ich zahlreiche Anhaltspunkte. Ich starre auf den Abfall und entscheide: Es gibt eine allgemeine Verwahrlosung. Ich warte auf den Tag, an dem alles, was lebt, seine Peinlichkeit eingesteht. Eine Mutter mit Kinderwagen erscheint am Treppenaufgang der S-Bahn-Station. Das Kind beißt mit kleinen spitzen Zähnen an einem Luftballon herum. Wenn die Zähne am Gummi abgleiten, entsteht ein knarzendes, knirschendes Geräusch, das ich noch vor wenigen Jahren nicht aushalten konnte. Da summt die S7 heran. Die Mutter mit Kinderwagen läßt sich von mir die S-Bahn-Türen öffnen. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß ich mich an dem Reibegeräusch zwischen Zähnen und Gummi nicht mehr störe. Ich sehe darin ein Zeichen der Hoffnung. Es gibt offenbar auch Widerstände, die sich irgendwann selbst auflösen. Das könnte bedeuten, daß ich mich doch dem Tag nähere, an dem ich mit innerer Genehmigung werde leben können. Ich nehme meinen Befund zurück und entscheide neu: Es gibt keine allgemeine Verwahrlosung. Ich wage nicht, die Mutter auf den Schreck hinzuweisen, der dem Kind droht, falls der Luftballon platzt. Es müßte eine spaßige und mahnende Bemerkung sein. Aber ich finde keine Worte, die Scherz und Warnung elegant verbinden und meine Angst gleichzeitig verschleiern. Schon gestern abend im Bett, kurz vor dem
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