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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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jetzt gegen die Sonne. Susanne zieht eine schwarze Sonnenbrille aus ihrer Handtasche und setzt sie sich auf. Das leidende Sprechen nimmt mich stark für sie ein. Sie sieht jetzt wirklich aus wie eine Schauspielerin, die nie mehr auf ihre früheren Erfolge angesprochen werden will. Ich darf nicht daran denken, daß Susanne in Wahrheit nur ein einziges Engagement hatte, das noch dazu gar kein echtes Engagement war. Die damals vierundzwanzigjährige Susanne hatte seinerzeit einen ebenso jugendlichen Geliebten, der praktisch berufslos war, sich aber für einen kommenden Theatermann hielt. Er steckte eine Erbschaft (sein Vater war Zahnarzt) in die Gründung eines Zimmertheaters und ließ Susanne darin auftreten. Ihr Geliebter war ein ebensolcher Laie wie sie. Es hatten sich zwei Amateure gefunden, die wie Professionelle auftraten, ohne Einspruch der Realität. Das heißt, nach ungefähr zwei Jahren traf dieser Einspruch doch ein. Das Vermögen des Liebhabers war aufgebraucht, ausreichend Zuschauer waren nicht gekommen, das Theater mußte geschlossen werden. Das Ende des Theaters war auch das Ende von Susannes Schauspielerei. Aber im Augenblick sieht es so aus, als sei diese Geschichte nie wahr gewesen. Susanne geht mit schnellen Schritten und lodernder Melancholie dahin. Es ist, als könne ihre Trauer jederzeit von ihr verlangen, daß ihre Geschichte noch einmal von vorne losgeht. Aber jetzt, sagt Susanne vor den Türen der Kanzlei, jetzt gehe ich wieder in die Realität! Sie lacht kurz, dreht sich um und ist verschwunden.
    Ich gehe weiter in Richtung Markt. Es gibt dort, zur Rheinstraße hin, ein paar Stände mit Lebendvieh. Dort werde ich mich auf eine Bank setzen und überlegen, was ich tun soll. Wahrscheinlich weiß Susanne selbst nicht, ob sie mich für durchschnittlich oder vielleicht gar für bedeutend halten soll oder nicht. Kurz vor der Rheinstraße kommt mir Scheuermann entgegen, mein ehemaliger Klavierlehrer. Er verlangsamt seinen Gang, er will vielleicht mit mir sprechen, aber es gelingt mir, ihm auszuweichen. Vor ungefähr zweiundzwanzig Jahren gab mir Scheuermann eine einzige Klavierstunde. Es hätten mehr werden können, aber nach der ersten Stunde war ich mir selbst so peinlich geworden, daß ich den Klavierunterricht für beendet erklärte. Vermutlich will Scheuermann mir bis heute sagen, daß ich nicht so streng mit mir selber sein soll und daß der Klavierunterricht jederzeit wiederaufgenommen werden kann. Aus der Rheinstraße dringt ein Geruch aus Haarspray, Benzin, Bratwurst, Rauch und Hühnerkot. Durch den Verkehrslärm hindurch höre ich das Piepen der Küken, die in flachen Käfigen auf dem Boden ausharren. In der Nähe eines Standes mit Gänsen und Hühnern setze ich mich auf eine Bank. Weit und breit gibt es niemanden, der meine peinlichen Gedanken darüber verscheucht, ob ich für Susanne bedeutend genug bin oder nicht. Dabei ist die Antwort darauf einfach: Meiner Bildung nach könnte ich bedeutend sein, meiner Stellung nach nicht. Wirklich bedeutend sind nur Personen, die ihr individuelles Wissen und ihre Position im Leben haben miteinander verschmelzen können. Außenstehende Leute wie ich, die nur gebildet sind, sind nichts weiter als moderne Bettler, denen niemand sagt, wo sie sich verstecken sollen. Um mich von meinen törichten Erörterungen zu erholen, betrachte ich eine ältere Rollstuhlfahrerin, die ihren Rollstuhl unter einem vorspringenden Zeltdach parkt und im Sitzen eine Bratwurst ißt. Es verwirrt mich, daß ich nach so vielen Jahren darüber nachdenke, ob ich mich Susanne nähern soll oder nicht und daß der Auslöser dieser Überlegung nur ein zufälliges Zusammentreffen in Susannes Mittagspause war. Ich kenne Susannes Busen sozusagen von Kindheit an, habe ihn aber viele Jahre nicht gesehen und nicht berührt und kann mir deswegen vielleicht nicht mehr einbilden, ihn zu kennen. Wie merkwürdig allein der Gedanke ist, den Busen einer Frau ›kennen‹ zu wollen! Inmitten dieser komischen Zustände verläßt mich der Mut, das Leben fortsetzenswert zu finden. Vielleicht sollte ich auch eine Bratwurst essen. Ich habe keinen Hunger mehr, aber während der Vertilgung einer Bratwurst fällt mir vielleicht ein Wort für die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens ein. Ich bin nicht der einzige, der während des Stillstands des eigenen Lebens kleine Tiere betrachtet. An den verkniffenen Gesichtern einzelner Männer und Frauen ist leicht zu sehen, daß sie sich niemals ein Huhn kaufen werden.

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