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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Einschlafen, habe ich gewußt, daß sich in meinem Geldbeutel noch zwei S-Bahn-Fahrscheine befinden, von denen ich jetzt den zweiten herausziehe und in den Entwerter stecke. In welch sorgfältige Handlungen die größeren Unglücke eingebettet sind! Vermutlich werde ich den Job bei Weisshuhn aufgeben müssen. Die Demütigung, nur für ein Viertel des alten Honorars zu arbeiten, ist selbst für einen duldsamen Menschen wie mich zu stark. Vermutlich werde ich Habedank nicht mehr treffen. Ich werde die vier Paar Schuhe, die er mir mitgegeben hat, wie üblich testen und sie ihm samt den Gutachten per Postpaket zurückschicken. Am Ebert-Platz verlasse ich die S-Bahn und will rasch nach links in die Gutleutstraße verschwinden. Da tritt mir Regine entgegen. Sie gibt mir die Hand und küßt mich auf die Wange. Regine ist nur wenig jünger als ich. Ich wundere mich über ihre Jugendlichkeit. Sie fragt, was ich zur Zeit mache, ich antworte ausweichend, was sie sofort bemerkt.
    Vor mir brauchst du dich nicht verstellen, sagt sie.
    Na schön, sage ich.
    Du willst mir trotzdem nicht sagen, was du machst?
    Ich habe gerade einen Job verloren, sage ich.
    Oh, macht Regine.
    Mit Regine habe ich vor etlichen Jahren, als wir beide noch Interviewer waren, eine Weile zusammengearbeitet. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem sie mich zuerst eine Stunde lang über Papiertaschentücher ausfragte, dann ich sie über Plastikkoffer. Die Agentur schaffte die Langzeit-Interviews aber leider ab und ersetzte sie durch Straßenbefragungen. Jetzt sollten wir uns vor Kaufhäusern, Behörden und Schulen aufstellen und die Leute über Steuerpolitik und Fernsehzeitschriften ausfragen. Das wollten wir beide nicht. So trennten sich unsere Wege.
    Arbeitest du zur Zeit? frage ich.
    Ich mache einen Kurs als Sterbebegleiterin, sagt Regine.
    Ohh, mache ich und muß ein wenig lachen.
    Das ist eine ernste Sache, sagt Regine.
    Ich möchte fragen, was man in einem solchen Kurs lernt, aber ich traue mich nicht.
    Und, frage ich statt dessen, kommst du klar?
    Neulich wollten sie mich zum ersten Mal einer Einundneunzigjährigen beistehen lassen, aber die Frau hat mich nach einer halben Stunde weggeschickt.
    Jetzt lachen wir beide und sehen dabei aneinander vorbei.
    Du bist ihr wahrscheinlich wie der Tod persönlich vorgekommen, sage ich.
    So habe ich das noch nie gesehen.
    Als Sterbender ist man doch gekränkt über jeden, der weiterlebt, sage ich.
    Du sprichst, sagt Regine, als wärst du schon einmal gestorben.
    Klar doch, sage ich, schon öfter, du etwa nicht?
    Wir lachen, und ich weiß nicht, ob Regine meine letzte Bemerkung versteht. Sie streckt mir die Hand hin und verabschiedet sich.
    Ruf mich mal an, sagt sie im Weggehen.
    Ich brauche keine Sterbebegleiterin, will ich ihr nachrufen, aber ich unterdrücke den Satz im letzten Augenblick.
    Kurz darauf fällt mir ein, daß Regine und ich sogar schon einmal zusammen gestorben sind. Ich interviewte sie zuerst über Urlaub und Fernreisen, dann sie mich über Konserven und Fertigmenüs. Hinterher lagen wir erschöpft auf ihrem Teppichboden. Wir tranken eine halbe Flasche Wein und alberten herum, bis uns die Augen zufielen. Als wir aufwachten, zogen wir uns aus und schliefen miteinander. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Regine lag neben mir und betrachtete ihren nackten Oberkörper. Ich merkte eine Weile nicht, daß sie schweigsam und traurig geworden war. Sie forderte mich auf, ich solle ihre Brüste anschauen. Das mache ich sowieso die ganze Zeit, habe ich darauf geantwortet, glaube ich. Aber offenbar nicht genau genug, sagte sie. Worauf willst du hinaus? fragte ich. Hast du bemerkt, daß sich meine Brustwarzen nicht mehr aufstellen? Regine hatte große längliche Brustwarzen, auf die sie stolz war. Daß sie sich bei erotischen Ereignissen aufstellten, war ihr stets ein Beweis für ihre Vitalität. Jetzt waren sie seitlich ein wenig eingeknickt oder umgelegt oder in den Warzenhof eingedrückt. Ich hatte die Veränderung bemerkt, aber ich hielt sie für bedeutungslos. Nur langsam ging mir auf, daß Regine körperlich irritiert war. Dann sagte ich auch noch, sie solle ihre Brustwarzen nicht so wichtig nehmen. In diesen Augenblicken sind wir zuerst gemeinsam verstummt und dann als Paar gemeinsam verstorben.
    In der Wohnung öffne ich die Fenster, lege mich auf den Boden und schalte den Fernsehapparat ein. Ich erwische einen Film über Blaufußtölpel auf den Galapagos-Inseln. Es sind große, weißgefiederte

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