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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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einmal ab, dann wüßte ich Bescheid. Auf keinen Fall darf er mich sehen, ich möchte nicht mit ihm reden. Er darf nicht merken, daß ich über ihn und Margot nachdenke. Am besten wäre, Himmelsbach würde sich irgendwo hinsetzen, den Hut abnehmen und ein bißchen nachdenken und nachsinnen. Aber Himmelsbach ruht nicht aus und sinnt nicht nach, das sind meine Gewohnheiten, nicht seine. Seine Hose sieht aus, als wäre sie nur ausgeliehen. Himmelsbach greift in seine Jackentasche und holt ein paar Sonnenblumenkerne heraus. Er knackt sie einzeln mit den Schneidezähnen und pult dann mit den Fingernägeln den weichen Kern hervor. Leider frage ich mich, ob Margot eine Frau ist, die mit Gelegenheitsprostitution ihre Einnahmen aufbessert. Dabei habe ich keine Lust, über Probleme nachzudenken. Das habe ich in meinem Leben schon zu oft getan, ich fühle mich inzwischen zu alt dafür. Ich suche nach einer Ablenkung. Ich möchte wenigstens auf dem Ufervorland umhergehen und dann und wann an einem Baum hochschauen und das Licht zwischen den Blättern beobachten. Aber das Ufervorland ist gerade nicht zur Hand, ich muß mich mit gewöhnlichen Vorstadtstraßen zufriedengeben. Es darf keinesfalls soweit kommen, daß ich mein Leben nur noch während des Umhergehens erträglich finde. An der Art und Weise, wie Himmelsbach geht, kann ich nicht erkennen, ob er gerade beigeschlafen hat oder nicht. Ich versuche, mich vorübergehend in zwei Personen aufzuspalten, in einen trockenen Streuner, der an diesem Tag Arbeit und Frau verloren hat, und in einen tätigen Phantasten, der davon nichts wissen will. Die Spaltung gelingt, jedenfalls für eine Weile. Schon fällt mir der starke Geruch der Lindenblüten auf, die es hier geben muß. Kurz darauf kommt zwischen zwei parkenden Autos ein schielender Hund hervor. Ich habe nicht gewußt, daß es schielende Tiere überhaupt gibt. Der Hund trottet an mir vorüber, ich kann ihm sowenig in die Augen schauen wie einem schielenden Menschen. Ich bin ihm sehr dankbar für die Zerstreuung, die er in mir hervorruft. Auch einer Lehrerin bin ich dankbar, aus dem gleichen Grund. Sie steht mit einem Dutzend Schüler an einer Straßenbahn-Haltestelle. Plötzlich sagt die Lehrerin zu den Kindern: Nehmt den Leuten nicht soviel Platz weg, sondern stellt euch raumsparend auf! Diese Bemerkung nimmt mich sofort gegen die Lehrerin ein. Es gelingt mir eine innere Empörung wie schon lange nicht mehr. Stellt euch raumsparend auf, murmle ich vor mich hin, mit solchen Sätzen beginnt das Elend. Die Lehrerin behandelt die Kinder wie Sonnenschirme oder Klappstühle, die man je nach Bedarf mal dahin und mal dorthin buchten darf. Ist es ein Wunder, daß die Menschen von Kindheit an die Lebensgenehmigung verweigern? Dann läßt die Aufspaltung meines Bewußtseins schon wieder nach. Die abgelehnten Erlebnisse kehren stückweise zurück. Mein Gehen ist jetzt nichts weiter als ein seltsames Zusammenspiel von Wehmut und Starre. Ich gestehe mir ein, es wäre schmerzlich, wenn ich Margot nicht wiedersehen könnte. Ich beschimpfe sie, aber es wird mir nicht besser dabei. Liebe Margot, mußtest du mich ausgerechnet mit Himmelsbach verletzen? Ich erinnere mich an einen Spruch, den ich als Sechzehnjähriger über Krankenschwestern, Sekretärinnen und Friseusen gedacht habe: Dumm fickt gut. Der Spruch stammte nicht von mir, ich habe ihn nur nachgeplappert, ich hatte damals weder von Krankenschwestern, Sekretärinnen, Friseusen noch von irgendwelchen anderen Frauen eine Ahnung. Ich versuche, die Erinnerung an den Spruch dem von mir abgespaltenen Doppelgänger unterzuschieben, leider ohne Erfolg. Ich bin es, der unter dem Spruch aufseufzt, sonst niemand. Am liebsten würde ich gleich zu Margot hinlaufen und beteuern, wie unaussprechlich einfältig ich mit sechzehn war. Immerhin habe ich während des ganzen Durcheinanders Himmelsbach aus dem Blick verloren. Ich frage mich, ob die Stimmungen, die gerade durch mich hindurchziehen, zu meinem Leben gehören oder nicht. Ich bin so abwesend und fast schon kraftlos, daß ich mit dem rechten Knie gegen ein geparktes Auto stoße. Mich stören zwei Kinder, die meinen Weg kreuzen und anstatt Schokolade nur Schoko sagen. Hoffentlich bleibe ich nicht stehen und weise die Kinder darauf hin, daß sie meinetwegen bitte Schokolade sagen mögen. Wäre dies der Anfang der Verrücktheit? Dabei will ich nicht klagen und nicht mahnen. Das Klagen und Mahnen ist die Lieblingsbeschäftigung von fünfundneunzig

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