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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Sie verharren nur stumm vor den Käfigen und hoffen darauf, daß ihnen plötzlich ein klärender Gedanke kommt. Seit einer halben Minute sitzen zwei ältere Frauen neben mir auf der Bank und reden über Balkonblumen und Düngeprobleme.
    Nur der Efeu ist winterhart, sagt die eine.
    Ja schon, sagt die andere, aber der Efeu wächst mir zu schnell.
    Ich will das Gespräch der beiden Frauen nicht mithören und gehe deswegen ein wenig umher. An einem Geflügelstand drückt eine Bäuerin gegen das Gestänge jeden Käfigs eine oder zwei Tomaten, die die Tiere von der Innenseite der Käfige rasch aufpicken. Plötzlich kehrt das Wort winterhart in mein Bewußtsein zurück. Ich frage mich, ob ich selbst winterhart bin. Ich bin es nicht, im Gegenteil, zur Winterhärte hat mir immer viel gefehlt, ich bin ja nicht einmal sommerhart! Mit einer Frau bin ich/wäre ich allerdings etwas winterhärter als ohne. Sollte es möglich sein, daß das zufällig gehörte Wort winterhart vielleicht den Ausschlag gibt, daß ich mich Susanne erneut zuwende? Wieder zieht die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens durch mich hindurch. Es beginnt leicht zu tröpfeln. Ich stelle mich unter das Zeltdach, unter dem immer noch die Behinderte parkt. Ihre Bratwurst hat sie inzwischen gegessen. Sie betrachtet reglos den immerzu zitternden Kamm eines Hahns. Dann öffnet sie ihre Handtasche und holt eine Plastikfolie heraus. Sie faltet sie auseinander und wickelt sich selbst vollständig in die Folie ein. Es stört sie nicht, daß es nur wenige Tropfen sind, gegen die sie sich so vehement schützt. Zum Schluß zieht sie sich eine Plastikkapuze über den Kopf und schaltet den Elektromotor ihres Rollstuhls an. Schon summt sie davon, ein unendlich verklumptes Gebilde. Ich schaue ihr nach, solange ich sie sehe. Dann gehe ich selbst nach Hause. Ich muß dringend die Gutachten für Habedank tippen, und ich habe das Gefühl, heute nachmittag werde ich es schaffen. Ich freue mich sogar auf das Nachhausekommen, was schon lange nicht mehr der Fall war. Aber wenn ich auf eine halbwegs anständige Weise ermüdet bin, wie jetzt, kann ich damit aufhören, mein Leben zu verdächtigen.

6
    Kurz nach dem Frühstück verlasse ich mit zwei Leinentaschen das Haus. In jeder Tasche befinden sich drei von mir probegetragene Paar Schuhe, in der Tasche links außerdem sechs Gutachten von jeweils zwei bis zweieinhalb Seiten Umfang. Es ist ein warmer, fast überheller Sommermorgen. Die Schwalben fliegen senkrecht die Hauswände hoch und biegen dann entweder über die Dächer seitlich ab oder fliegen weiter in die blauen Höhen des Himmels. Ich würde gerne stehenbleiben und ihnen nachschauen, wenn ich sie schon nicht nachahmen kann. Aber ich habe einen Termin. Um zehn bin ich mit Habedank verabredet. Am Ebert-Platz steige ich in die S7 ein und fahre bis Hollenstein. Dort liegt, von der S-Bahn-Station nicht weit entfernt, die Schuhmanufaktur Weisshuhn. Im Disponentenbüro werde ich auf Habedank treffen und die Schuhe plus Gutachten abliefern. Mit Habedank werde ich etwa eine Dreiviertelstunde plaudern, erst zwanzig Minuten über die von mir getesteten Schuhe, den Rest der Zeit über elektrische Eisenbahnen. Dann wird mir Habedank drei oder vier Paar neue Schuhe aushändigen, und ich werde nach Hause fahren. Obwohl mir dieser Ablauf seit Jahren vertraut ist, spüre ich jedesmal eine leichte Nervosität. Sie geht zurück auf meinen Dünkel, den ich bei solchen Ausfahrten deutlicher zu spüren kriege als sonst, wenn ich nur zu Hause bin. Ich habe diesen Dünkel von meiner Mutter geerbt. Mit ihr glaube ich, daß es sich nicht lohnt, die Welt ein ganzes Leben lang anzuschauen. Früher habe ich gegen die Auswirkungen des Dünkels gekämpft, heute nicht mehr. Natürlich muß ich mich, wenn ich mit Habedank zusammen bin, besonders anstrengen. Er soll von meinem Dünkel nichts bemerken. Er glaubt, elektrische Eisenbahnen seien auch mein Hobby, er glaubt, ich lese, genau wie er, bis heute Fachzeitschriften über die frühen Produkte vor allem von Trix und Fleischmann. Er merkt nicht, daß ich ein seit meiner Kinderzeit stehengebliebenes Wissen immer nur für ihn noch einmal und noch einmal abrufe. Es kann auch sein, daß mir Habedank eine öde Geschichte erzählt, die ich mit routinierter Anteilnahme anhöre. Vor drei Wochen brauchte er fast zehn Minuten, um mir das Ende seines Urlaubs zu erzählen. Er hatte während der ganzen Fahrt von Italien nach Deutschland denken müssen, daß ihm das Benzin

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