Ein Regenschirm furr diesen Tag
Prozent der Menschheit, mit der mein Dünkel nichts zu tun haben will. Ich will nur kurz meine Tagesverdammnis ausdrücken und dann weiterleben. Nein, es ist nicht die Verdammnis, es ist die Merkwürdigkeit des Tages, die ich loswerden will. Wie ist es nur möglich, daß ich Sehnsucht empfinde nach einer Friseuse, die ich nur ein halbes dutzendmal getroffen habe und von der ich kaum mehr weiß als ihren Vornamen, daß ich auf einen halb verkommenen Fotografen eifersüchtig bin und daß ich einem Job nachtrauere, der mich sowieso nicht ernährt hat, und das alles an einem einzigen Tag? Es kommt mir so vor, als dürfte ich unter dem Eindruck dieser Merkwürdigkeit nicht nach Hause gehen. Ich setze mich auf eine Holzbank und schaue auf das Gestrüpp neben der Bank. Es gefällt mir sehr gut, weil es nichts als sein eigenes Ausharren ausdrückt. Ich möchte so sein wie dieses Gestrüpp. Es ist täglich da, es leistet Widerstand, indem es nicht verschwindet, es klagt nicht, es spricht nicht, es braucht nichts, es ist praktisch unüberwindbar. Ich empfinde Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen. Auf diese Weise hätte ich vielleicht Anteil an der Beharrungskraft des Gestrüpps. Schon das Wort Gestrüpp beeindruckt mich. Es ist vielleicht das Wort für die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens, nach dem ich schon so lange suche. Das Gestrüpp drückt meinen Schmerz aus, ohne mich anzustrengen. Ich schaue auf das staubige Gewirr seiner Blätter, auf denen Vogelkot herunterläuft oder fest geworden ist, ich schaue auf die vielen, von Kindern abgeknickten oder abgerissenen und doch nicht entmutigten Äste und auf die peinigenden Abfälle, die sich um die Wurzeln der Sträucher herum sammeln und diese doch nicht beeinträchtigen. Wenn das Gefühl der Merkwürdigkeit eines Tages zu stark wird, werde ich hierhergehen und meine Jacke in das Gestrüpp werfen. Ich möchte die Jacke als Zeichen zwischen den Ästen liegen sehen. Das Bild wird ganz eindeutig sein und doch von niemandem erkannt werden. Ich werde, wann immer ich will, an der Jacke vorübergehen und sie dabei bestaunen können, wie sie durch immer neue Schmerzverarbeitung zwar älter und unansehnlicher, in Wahrheit aber so unüberwindbar wie das Gestrüpp wird. Ich dagegen werde die Jacke wie meinen überlebenden Doppelgänger bewundern und dabei, jedenfalls momentweise, schmerzfrei sein. Ich kann nicht völlig ausschließen, ob ich vielleicht in diesen Augenblicken verrückt werde. Fest steht in jedem Fall, daß ich verrückt geworden sein werde, wenn ich meine Jacke tatsächlich in das Gestrüpp geworfen haben werde. Soweit ist es im Augenblick noch nicht. Ich stelle mir gern ein gespieltes Verrücktsein vor, das mir helfen soll, unangefochten zu leben. Zuweilen, für Minuten nur, sollte das gespielte Verrücktsein in ein echtes übergehen und meine Distanz zur Wirklichkeit vergrößern. Freilich müßte es mir möglich sein, jederzeit wieder zum Spiel zurückzukehren, sobald mir die echte Verrücktheit zu nahe tritt. Vermutlich wird sich dann zeigen, daß die Menschen erst dann glücklich sein können, wenn sie zwischen gespielter und echter Verrücktheit jederzeit wählen können. Ohnehin habe ich schon oft beobachtet, daß die Menschen eine natürliche Neigung zur Geisteskrankheit haben. Ich wundere mich, daß nicht viele Personen endlich eingestehen, daß ihre Normalität nur gespielt ist. Auch die Familie, die soeben an mir vorübergeht, ist gemeinschaftlich verrückt. Ein Mann, eine Frau und eine Oma machen sich über ein Kind lustig. Das Kind ist noch klein, es sitzt im Kinderwagen und kann nichts. Es kann den Kopf nicht halten, es kann nicht greifen, es kann den Mund nicht richtig öffnen, es kann nicht schlucken. Jedesmal, wenn das Kind wieder etwas nicht kann (im Augenblick läuft ihm die Spucke aus dem Mund heraus), kreischen der Mann, die Frau oder die Oma vergnügt auf. Sie bemerken nicht, daß ihr derbes Entzücken für das Kind höhnisch ist, obwohl sie beobachten könnten, daß der unruhig fliehende Blick des Kindes nach einer weit entfernten Zuflucht sucht. Sonderbarerweise finde ich durch die Beobachtung der verrückten Familie wieder in die Realität zurück. Nur das Kind sackt Millimeter für Millimeter tiefer in den Kinderwagen. Ich schließe meine Jacke und gehe nach Hause. Die verrückte Familie entfernt sich kichernd.
Ruhig und ahnungslos liegt die Wohnung da. Ich fühle mich nicht armselig, als ich in die
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