Ein Regenschirm furr diesen Tag
den Sie dann lieben, aus der Menge derjenigen hervorgekommen ist, die Sie zuvor abgelehnt haben, und weil Sie über diese ungerechtfertigte Ablehnung Schuld empfinden, sage ich.
Herr Auheimer, ein Anwalt und Bürokollege von Susanne, hebt den Zeigefinger und fragt: Meinen Sie eine justitiable Schuld, oder meinen Sie unser aller Schuld, die Erbsünde?
Mir ist egal, antworte ich, wie Sie diese Schuld nennen, ich rede jedenfalls von der Schuld, die sich unbemerkt ansammelt, indem man schuldlos zu leben meint.
Und wodurch entsteht das Schuldverhältnis genau? fragt Herr Auheimer.
Jeder, der lebt, antworte ich, verurteilt die anderen, die mit ihm leben, oft jahrzehntelang. Eines Tages fällt uns auf, daß wir Richter geworden sind, jeder einzelne. Die Schuld, die durch diesen Einblick frei wird, kommt dann dem einzelnen Schuldigen zugute, den wir endlich lieben können. Jetzt haben wir es geschafft: Wir lieben unsere Schuld.
Susannes Augen leuchten. Sie findet es wunderbar, daß an ihrem Wohnzimmertisch so gesprochen wird. Ich weiß nicht, ob sie merkt, daß ich nur wegen ihr so rede, ich glaube, eher nicht.
Aber die meisten Menschen wissen doch gar nichts von dieser Schuld, sagt Herr Auheimer, sie halten sich für absolut schuldlos.
Das ist ja das Schlimme, sage ich; deswegen wäre es das beste, wenn an den Universitäten endlich Vergleichende Schuldwissenschaften gelehrt würde.
Was? fragt Frau Dornseif.
Vergleichende Schuldwissenschaften, wiederhole ich.
Das habe ich noch nie gehört, sagt Herr Auheimer.
Das können Sie auch noch nie gehört haben, weil es Vergleichende Schuldwissenschaften nicht gibt oder jedenfalls noch nicht, sage ich.
Susanne erhebt sich und geht in die Küche. Sie trägt weitere Schälchen mit überbackenen Pfirsichen und Mascarpone-Creme in das Wohnzimmer.
Aber ich will nicht den ganzen Abend reden! sage ich.
Doch, ruft Susanne, sprich!
Susanne schenkt mir Wein nach und dreht mir im Sitzen den Oberkörper zu.
Verstehen Sie die Vergleichenden Schuldwissenschaften als historische Wissenschaft? fragt Herr Auheimer.
Unter anderem, sage ich; wir alle leben in Ordnungen, die wir nicht erfunden haben, wir können nichts für diese Ordnungen, sie befremden uns. Sie befremden uns deswegen, weil wir merken, daß wir mit der Zeit die Schuld dieser Ordnungen übernehmen. Die faschistische Ordnung bringt faschistische Schuld hervor, die kommunistische Ordnung bringt kommunistische Schuld hervor, die kapitalistische Ordnung bringt kapitalistische Schuld hervor.
Ahh so! ruft Herr Auheimer, jetzt verstehe ich Sie! Sie meinen, Schuld entsteht, wenn Menschen die Systeme wechseln?!
Soweit kommt es bei den meisten ja gar nicht, sage ich mit sinnloser Genauigkeit, es ist wie mit der Liebe! Ich meine die gewöhnliche Schuld der Systeme, die langsam in uns einwandert, indem wir schuldlos in diesen Ordnungen zu leben meinen. Alle politischen Ordnungen wollen dasselbe, nämlich die Abschaffung des Leids. Ebendeswegen sind sie gar keine politischen, sondern phantastische Bewegungen, verstehen Sie? Weil man die Abschaffung des Leids nicht wirklich wollen kann!
Und wo ist jetzt wieder die Schuld? fragt Herr Auheimer.
Die Schuld entsteht, sage ich, weil wir das im Prinzip alle wissen, aber trotzdem auf Leute hereinfallen, die uns ein Leben ohne Leid vorgaukeln.
Ach so! ruft Frau Dornseif! So meinen Sie das!
Plötzlich reden alle am Tisch davon, was sie einmal geglaubt haben und wie sie deswegen schuldig geworden sind. Himmelsbach redet davon, daß er an Mütter, Väter und Lehrer geglaubt hat, Frau Balkhausen redet von ihrem verflossenen Glauben an Universitäten, Krankenhäuser und Gerichte, Frau Dornseif von ihrem Glauben an die Jugend und die Männer. Ich bin gespannt, von welcher Schuld Susanne sprechen wird, aber sie spricht nicht. Ich habe das Gefühl, Susanne würde ihre Gäste am liebsten nach Hause schicken, weil sie die Bewegtheit des Abends nicht länger mit ihnen teilen will. Dann holt sie zwei neue Flaschen Wein aus der Küche, ich öffne sie und schenke den Gästen nach. Frau Balkhausen und Frau Dornseif haben den Eindruck (wenn ich mich nicht täusche), daß sie an einer Enthüllung teilnehmen. Endlich wissen sie, daß es im Leben von Susanne einen Mann im Hintergrund gibt. Susanne und ich spielen das Spiel mit, obwohl wir beide nicht wissen, ob es ein Spiel ist und/oder ob wir schon morgen über unser altes Theater seufzen oder kichern werden. Frau Balkhausen fragt mich schüchtern,
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