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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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doch ehe er etwas erwidern konnte, stand sie wieder draußen im Freien, in der erbarmungslosen Kälte des Tages. Auf dem Rückweg durch das Dorf rannte sie fast. Es war niemand unterwegs. Als sie den windigen Hügel erklomm, atmete sie erleichtert auf.
    Der Regen ließ nach. Auf halber Höhe beugte sie sich nach vorn, plötzlich erschöpft. Als sie sich wieder aufrichtete, breitete sich ein Schmerz in ihr aus, stechend und fast schon vergessen. Der Fluch, da ist er wieder. Zitronenfarbene Wolken teilten sich. Eine fahle Sonne schimmerte hindurch. Shells Ohren glühten. Keuchend spürte sie, wie die letzten Regentropfen angenehm kühl auf ihre Stirn fielen. Der Schmerz verdichtete sich zu einem Klumpen in der Beckengegend und löste sich schließlich auf. Shell stieg weiter den Hang hinauf. Es gibt nichts, was er hätte tun können, dachte sie. Ich bin allein.
    Der Wind trug lautes Geschrei an ihr Ohr. Shell drehte sich um und sah Trix und Jimmy, die auf sie zurannten, mit wedelnden Armen, wie wirbelnde Windmühlenflügel. Sie waren schon wieder aus der Schule zurück. Shell konnte sich nicht erklären, wo die Zeit geblieben war. Am Wäldchen blieb sie stehen und wartete auf die beiden, bibbernd unter ihrem Regenmantel. Ich bin allein, abgesehen von Trix und Jimmy, dachte sie. Wir drei. Wir müssen das gemeinsam durchstehen.

Dreißig
    Jimmy hatte die Noten von Wir Heiligen Drei Könige, wir kommen von fern herausgesucht. Er saß am Klavier und klimperte fast den ganzen Abend auf den Tasten herum, während Trix und Shell aus einer alten Cornflakespackung ein paar Engelsflügel ausschnitten.
    Der dumpfe Schmerz kam und ging. Es begann wieder zu regnen. Shell schaltete den zweiten Stab des Heizelements ein, obwohl Dad es ihnen verboten hatte. Es war Dienstag; die Wahrscheinlichkeit, dass er vor Freitag wieder zu Hause auftauchte, war sehr gering, also würde er es nicht erfahren. Shell legte seinen Regenmantel vor die Küchentür, damit es nicht so zog, und drückte die Gardinen mit allerlei Krimskrams aus dem Haus gegen die Fensterbank. Dennoch waren ihre Hände eiskalt.
    Sie machte Ochsenschwanzsuppe warm, zwei Dosen als Abendessen, trank hastig ihre Schale leer und spürte, wie sie sich beim Schlucken die Kehle verbrühte. Wieder begann sie zu zittern.
    Der Schmerz kehrte zurück, stechend und energisch, und sie sprang so abrupt auf, dass ihr Stuhl umkippte.
    Trix und Jimmy starrten sie an. »Was hast du denn, Shell?«, fragte Jimmy.
    Sie antwortete nicht. Ihre Augen hefteten sich auf den heiligen Kalender über dem Klavier, fixierten den wallenden Mantel der Jungfrau, folgten dem Faltenwurf.
    »Stimmt was nicht, Shell?«, sagte Trix.
    Sie hielt sich am Tisch fest. »Nichts.« Shell stellte den Stuhl wieder hin, setzte sich und umfasste ihren Bauch. »Alles in Ordnung.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich. Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich was vergessen habe, das ist alles.«
    Sie stand auf und begann umherzugehen.
    »Was ist es denn?«, fragte Trix.
    »Was ist was?«
    »Das, was du vergessen hast?«
    »Was ich vergessen hab?«
    Jimmy tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn. »Sie hat sie nicht mehr alle«, flüsterte er Trix laut und deutlich zu.
    »Beeilt euch mit eurer Suppe«, sagte Shell. »Es ist Zeit fürs Bett.«
    »Nein, noch nicht. Es ist erst sieben.«
    »Wenn ich sage, es ist Zeit fürs Bett, dann …« Sie unterbrach sich und ging in die Hocke. »… ist es Zeit fürs Bett.«
    »Und meine Flügel?«, sagte Trix.
    »Du kannst sie morgen früh fertig machen.« Der Schmerz ließ nach. »Oder jetzt vielleicht, wenn du dich beeilst.«
    Trix und Jimmy tranken ihre Suppe aus und stellten die Schalen klappernd in die Spüle, während Shell den Tisch abräumte. Trix kramte ihre Flügel hervor und öffnete den Malkasten. Sie füllte einen Becher mit Wasser und tauchte den Pinsel hinein. Jimmy setzte sich wieder ans Klavier. Inzwischen spielte er auch Jingle Bells.
    Shell holte den Besen und begann zu fegen.
    »Du hast den Boden doch gerade erst gefegt«, bemerkte Jimmy, ohne sich umzudrehen.
    »Jetzt ist er aber wieder voller Krümel, von euch beiden«, erwiderte sie patzig und stieß die Borsten gegen seine Füße, fuhr mit ihnen zwischen die Beine des Klavierhockers und die Pedale. »Ich feg dich weg, wenn du nicht still bist!« Sie schwang den Besen Richtung Spüle.
    Das Licht begann zu flackern, trübte sich und wurde wieder greller. Der Wind schwoll zu einem durchdringenden Pfeifen an. Die Zeit verging.

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