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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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sie eines Morgens seinen Kleiderschrank durchsucht hatte, waren ihr Lippenstiftspuren an seinem Hemdkragen aufgefallen. Von dem Geld im Klavier waren inzwischen nur noch hundert Pfund übrig.
    Eines Tages, dachte Shell, wird er ganz in die Großstadt ziehen und überhaupt nicht mehr wiederkommen.
    Tagsüber fuhr sie in die Stadt, um ihre Besorgungen zu erledigen. Sie nahm den Bus von der Haltestelle außerhalb des Dorfes, um die Mittagszeit, wenn sonst niemand unterwegs war. Wenn sie nach Hause kam, fegte sie den Boden und machte sich vielleicht daran, etwas zu backen, wenn ihr danach war. An trüben Nachmittagen streifte sie ihre Schuhe ab, setzte sich in den Sessel und schaltete das Heizelement an. Dann lauschte sie auf das Knistern, während die Metallstäbe erst rot und dann orangefarben zu glühen begannen.
    Das Baby machte sich bemerkbar, wenn sie sich nicht bewegte.
    Kevin. Hughie. Paul. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Gabriel. Sie lächelte.
    Und wenn es ein Mädchen wurde?
    Zuerst fiel ihr absolut nichts ein. Dann kam ihr die richtige Idee. Rose.
    »Shell«, sagte Jimmy an diesem Abend.
    »Du sollst deine Hausaufgaben machen, Jimmy.«
    Er warf den Füller hin. »Schon fertig.«
    »Ich glaube dir nicht.«
    Jimmy drückte mit der Zunge sein Wangenzelt nach außen. »Mr Duggans erste Kuh hat gekalbt.«
    »Schon?«
    Jimmy nickte. »Das Kalb kam früh. Zu früh, sagt Mr Duggan.«
    Shell starrte ihn an.
    »Ich hab gesehen, wie’s rausgekommen ist, Shell. Nach der Schule. Mr Duggan hat erlaubt, dass ich und Liam zusehen.«
    »Und?«
    »Es kam hinten bei der Kuh raus.«
    Trix blickte mit offenem Mund von ihren Hausaufgaben auf.
    »Na und?«, sagte Shell. »Wo sollte es denn sonst rauskommen?«
    »Mr Duggan hatte eine Schnur. Die hat er um die kleinen Hufe gewickelt und das Kalb dann rausgezogen.«
    »Igitt«, sagte Trix.
    »Es ist gar nicht rausgesprungen, Shell. Nicht so wie Toast.«
    »Nein?«
    »Jedenfalls nicht gleich. Als erst mal ein gutes Stück draußen war, flutschte der Rest irgendwie hinterher.«
    »Na bitte.«
    »Das sah aber nicht so toll aus«, sagte Jimmy.
    Shell gab einen missbilligenden Laut von sich. »Dann war das eben eine einzelne Kuh, die Pech gehabt hat«, sagte sie. »Normalerweise fallen die Kälber einfach nach unten.«
    »Und übrigens …«
    »Du sollst deine Hausaufgaben zu Ende machen, Jimmy. Und du auch, Trix.«
    »Da kam auch noch dieses ganze Zeugs raus.«
    »Zeugs? Was für ein Zeugs?«
    »So ’n Ekelkram.«
    Trix verzog das Gesicht. »Äh!«
    »Was denn für Ekelkram?«
    »Braune Klumpen. Was Schleimiges, so wie Glibber. Mr Duggan meinte, das ist die Nachgeburt. Und weißt du was?«
    »Was?«
    »Die Kuh wollte sie auffressen. Und sie hat auch noch den ganzen Schlabber von dem Kalb abgeleckt.«
    Shell erschauerte. »Jetzt mach endlich weiter. Auf der Stelle.«
    Jimmy griff wieder nach dem Füller. Trix blätterte eine Seite um. Der Kühlschrank summte.
    »Eine Kuh ist eine Kuh«, sagte Shell. »Babys kommen weich und weiß auf die Welt. Ihr werdet schon sehen.«
    Ein heftiges Hungergefühl überkam sie, während ihre beiden Geschwister sich wieder mit ihren Hausaufgaben beschäftigten. Sie inspizierte die Speisekammer nach etwas Essbarem, aber das Brot war bis auf den letzten Rest aufgebraucht.
    »Shell«, fing Jimmy wieder an.
    »Was?«
    »Wenn … du weißt schon, was«, er deutete auf ihren Trommelbauch und machte eine weit ausholende Geste.
    Sie runzelte die Stirn. »Ja?«
    »Was machst du dann damit?«
    Sie starrte ihn an.
    »Sie wird’s verstecken. Stimmt’s, Shell?«, meldete sich Trix zu Wort.
    Shell spitzte nachdenklich die Lippen.
    »Wo denn?«, sagte Jimmy spöttisch.
    »Sie könnte es in die Schublade legen«, überlegte Trix. »Oder unters Bett.«
    »Dad würde es doch schreien hören, Dummbatz«, sagte Jimmy.
    »Nein, würde er nicht.«
    »Doch, würde er.«
    »Würde er nicht!«
    »Würde er doch!«
    »Seid still, alle beide!«, brüllte Shell. Sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.
    Jimmy kaute an seinem Füller. »Und? Was wirst du machen?«, rief er ihr zu.
    Shell dachte an Maria und Josef, die vor dem Zorn des Königs Herodes nach Ägypten geflohen waren. Sie dachte an Moses als Baby, das in einem Binsenkörbchen den Fluss hinuntergetrieben war. Sie ließ die Hände sinken. »Mach dir darüber keine Sorgen, Jimmy«, sagte sie. »Du wirst schon sehen. Ich habe mir alles genau überlegt.«

Neunundzwanzig
    Doch das hatte sie nicht.
    Wieder und wieder

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