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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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las sie das Körperbuch, bis sie den Abschnitt über die Geburt in- und auswendig kannte. Worte wie Kontraktionen, Dilatation, Amnionwasser, Sektio, Episiotomie begannen ihr vor den Augen zu verschwimmen, verwirrten sich zu einem Labyrinth aus Normal und Anormal, Erlaubt und Verboten, Vorher und Nachher. Shell schlug das Buch zu und dachte: Ich knie mich einfach hin und presse und hoffe … und presse weiter.
    Dann kamen die Was-wenns.
    Was, wenn … An den immer dunkler werdenden Nachmittagen saß sie im Sessel, während der Wind draußen die Regenrinne umheulte und schräg von Westen der Regen niederging. Was, wenn … Nein, sie hatte sich gar nichts genau überlegt. Sie war ratlos und biss sich auf die Lippen. Sie brauchte jemanden, der ihr half. Nicht Trix und Jimmy. Jemanden, zu dem sie hingehen und dem sie alles erzählen konnte. Wenn Bridie doch nur da gewesen wäre. Sie hätte sich irgendeinen verrückten Plan ausgedacht, was immerhin besser gewesen wäre als gar kein Plan. Shell schaute auf den heiligen Kalender. Das Dezemberbild zeigte Maria mit dem Kind. Der blaue Umhang der Heiligen Jungfrau bedeckte wallend ihren Oberkörper und die Knie, das Baby saß aufrecht und segnete die Welt. Madonna mit Kind und einem 33J-Wonderbra, hörte sie Declan witzeln. Wem hatte Maria es wohl erzählt? Wahrscheinlich ihrer Mutter. Und dann hatte ihre Mutter es dem Vater erzählt. Und der Vater hatte es Josef erzählt. Und nach und nach hatte jeder es erfahren. Und jeder hatte es verstanden.
    Ihr Blick fiel auf das Klavier. Der Deckel war hochgeklappt, Jimmy hatte am Abend zuvor gespielt, wie immer. Sie sah Mum vor sich, wie sie auf dem Hocker saß, den rechten Fuß über dem Pedal schwebend, wie ihre Finger über die Töne glitten und leichte, sanfte Melodien hervorbrachten. »Mum, ich muss dir etwas sagen«, sagte sie laut. Die Gestalt am Klavier wandte sich langsam um, mit fragendem Blick. Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihre Lippen. »Was denn, Shell?« Die Töne auf dem Klavier stockten, die Melodie geriet ins Schwanken. Shell konnte sich einfach nicht überwinden weiterzureden. »Nichts, Mum, entschuldige. Spiel nur weiter.« Doch anstatt sich umzudrehen und weiterzuspielen, löste die Gestalt sich auf und hinterließ gähnende Leere. Shell stand auf und klappte den Deckel herunter, um die Tasten nicht sehen zu müssen.
    Sie musste an Mrs Duggan denken, die Mums beste Freundin gewesen war. Es wäre eigentlich naheliegend gewesen, sich an sie zu wenden. Doch sie lag schon seit einiger Zeit im Regionalkrankenhaus, um dort ihr eigenes Kind zur Welt zu bringen; bisher war sie noch nicht zurück. Es hätte Komplikationen gegeben, hieß es, aber niemand wusste etwas Genaues.
    Ihre einzige andere Freundin war Bridie Quinn. Shell hatte keine Hoffnung, dass sie ihr irgendwie von Nutzen sein konnte, selbst wenn sie sich nicht in Kilbran aufhielt, wie Bridies Familie erklärte, oder in Amerika. Wie Theresa Sheehy behauptete.
    Es gab niemanden.
    Dann fiel ihr Pater Rose ein.
    Sie erinnerte sich wieder, wie sein Arm zu einer Brücke wurde. Gottes Segen, Shell. Bist du glücklich, Shell? Vertraue mir, Shell.
    Als ich den Hügel heraufkam, sah ich dich, Shell. Seine Worte schwirrten ihr im Kopf herum, seine Augen blickten sie über die einfallenden Strahlen des Lichts in der Kirche hinweg an. Hastig, ehe sie Zeit hatte, es sich anders zu überlegen, griff sie nach Dads Regenmantel und eilte hinaus. Im strömenden Regen stieg sie den Acker hinauf und lief ins Dorf hinunter, den Kopf im Wind gesenkt, die Hände taub vor Kälte. Der Regen peitschte ihr entgegen und ging in Schneeregen über. In den stahlgrauen Pfützen tanzte das Wasser.
    Im Dorf war alles ruhig, kein Leben, keine Seele zeigte sich. Es war Dienstag, der Nachmittag, an dem man für gewöhnlich zur Beichte ging. Sie hatte seit Ewigkeiten nicht mehr gebeichtet, nicht mehr seit der Fastenzeit, als Pater Carroll sie von dem üblichen Sündenkatalog freisprach, den sie sich zuvor zurechtgelegt hatte. Ich habe mit meinem Bruder geschimpft. Ich habe Dad nicht gehorcht. Ich habe die Schule geschwänzt. Jedes Mal zählte sie dieselben drei Dinge auf, und falls es ihm aufgefallen war, hatte er es nie erwähnt. Vielleicht nahm an diesem Tag ja Pater Rose die Beichte ab. Wenn es so war, konnte sie den Beichtstuhl betreten und ihm einfach alles erzählen. Es würde dunkel sein, das Metallgitter würde sie trennen, nur die Umrisse seines Gesichts würden zu erkennen

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