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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Jingle, jingle, spielten die Klaviertasten, immerzu denselben nervtötenden Ton.
    Großer Gott, da ist es wieder.
    Shell ließ den Besen fallen. »Spiel weiter, Jimmy.« Hastig stürzte sie ins Schlafzimmer und ließ sich keuchend auf das Bett fallen. Doch der Schmerz kehrte erbarmungslos wieder. Sie zog die Knie bis an ihr Kinn und begann vor und zurück zu schaukeln. Jingle bells, jingle bells, jingle all the way. Die Ochsenschwanzsuppe kam wieder hoch, doch Shell schaffte es gerade noch, sie wieder hinunterzuschlucken. In ihren Ohren rauschte es und gelbe Streifen flimmerten ihr vor den Augen. O what fun it is to ride on a one-horse open sleigh-hey, jingle bells …
    »Shell?« Jimmy und Trix beugten sich über ihr Bett und schauten zu ihr herunter.
    Sie blinzelte. In ihr explodierte der Schmerz in tausend winzige Teile, die das Blut in jeden Winkel ihres Körpers trug, dann ließ er nach. »Was ist?«
    »Bist du in Ordnung?«, fragte Jimmy.
    Trix zitterten die Lippen. »Du benimmst dich so komisch, Shell.«
    Shell setzte sich hin. »Es geht mir gut.« Sie stand auf und wuschelte Trix durchs Haar. »Ich musste mich nur mal kurz hinlegen.« Sie ging zurück in die Küche. »Mach die Flügel fertig, Trix. Komm, gib mir einen Pinsel.«
    Sie malten einen Mischmasch aus Orange, Weiß und Gelb. Aber das Grün der Cornflakespackung schien immer noch durch, deshalb übertünchten sie die Stelle mit viel Blau. Die grauen Innenseiten wurden knallrot. Shell bohrte mit Hilfe eines Fleischpikers Löcher und zog ringförmige Schnüre hindurch, mit denen die Flügel sich an den Schultern befestigen ließen. Trix probierte sie an.
    Jimmy schaute vom Klavier auf. Er spielte schon wieder Wir Heiligen Drei Könige. »Die hängen ja runter.«
    »Tun sie nicht«, sagte Trix. Sie flatterte mit wedelnden Handflächen durch die Küche.
    »Tun sie. Die Flügelspitzen zeigen nach unten. Wenn du ein echter Engel wärst, würdest du abstürzen.«
    »Würd ich nicht.«
    »Doch.«
    »Nein.«
    »Doch. Krach, wumm, flatsch!«
    »Seid still!«, kreischte Shell. Da war es wieder, unerbittlich und brutal. Ihre Hand schoss blindlings nach vorn, fegte das Wasserglas und die Pinsel quer über den Küchentisch.
    Sie packte die Rückenlehne eines Stuhls. Das farbige Wasser lief über das geordnete Schachbrettmuster der Plastiktischdecke.
    Shell erreichte die Spüle gerade noch rechtzeitig. Diesmal ließ sich die Ochsenschwanzsuppe nicht mehr aufhalten.
    »Igitt«, sagte Trix.
    Shell drehte die Wasserhähne voll auf und sank in die Hocke. Uuuääruuuuu … Das Stöhnen schien aus den tiefsten Tiefen ihrer Kehle zu kommen.
    Jimmy verließ seinen Klavierhocker und musterte sie eingehend. »Klingt genau wie bei Mr Duggans Kuh«, sagte er nachdenklich.
    Wieder perlte der Schmerz von ihr ab wie Wasser. Aber ihr war immer noch eiskalt und zittrig zu Mute.
    »Trix«, flüsterte sie. »Sei so gut und wisch die Schweinerei auf, ja?«
    Sie holte den Regenmantel, der vor der Türritze gelegen hatte, und zog ihn sich über.
    »Wo willst du denn hin?«, fragte Jimmy.
    »Nach draußen. Ein bisschen frische Luft schnappen.«
    »Aber es gießt in Strömen.«
    »Ist mir egal.«
    Sie lief zur Tür hinaus und fünfmal um das Haus, während sie die Runden mitzählte. Das Einzige, was sie sah, war das Licht, das durch die Küchenfenster auf den betonierten Weg fiel, vor dem Haus und hinter dem Haus, und die Regenrinnen und Gullys, durch die der Regen in die Erde schoss.
    Bei der neunten Runde ging es wieder los. Wieder musste sie sich übergeben, in den Wind. Diesmal war nicht Dad die hustende Ziege am Torpfosten, sondern sie selbst. Nach einer Weile wich der Schmerz.
    Sie ging wieder hinein.
    »Lass Wasser in die Wanne, Trix.«
    »Aber heut ist gar nicht Badetag, Shell.«
    »Egal. Ich bade.«
    Trix rannte los.
    »Und du spiel weiter, Jimmy.«
    Jimmy zuckte mit den Schultern und spielte Wir Heiligen Drei Könige, wir kommen von fern, auf den knarrenden tiefen Tasten des Klaviers. In der Badewanne stieg das Wasser genau bis zu dem Schmutzrand, der sich einfach nicht mehr entfernen ließ. Es war nicht brüllend heiß, aber immerhin warm genug. Sobald sie drinlag, hörte das Zittern auf. Ihre Hände und Füße begannen zu prickeln. Trix setzte sich auf den Toilettendeckel und schaute ihr zu, was sie öfter tat.
    »Du benimmst dich heute Abend total komisch, Shell«, sagte sie.
    »Wieso komisch?«
    »Bei dir geht’s dauernd hin und her. Komisch ist das.«
    Kontraktion,

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