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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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denn hier zu suchen?«
    »Es ist zwei Uhr nachts, Shell.«
    »Es kommt, es kommt.«
    »Das hast du das letzte Mal auch schon gesagt.«
    »Es kommt wirklich, o Gott.« Sie kauerte am Boden und kroch Richtung Küche. »Gott, hilf mir.« Ihre Knie spreizten sich, ihr stumpfes Haar wellte sich über den Dielenboden.
    »Hol die Mülltüte, Trix. Die Schnur. Und die Schere«, hörte sie jemanden sagen. Es klang wie die Stimme eines Folterknechtes. Er würde sie zerstückeln. Sie begann lauthals zu brüllen, aber meilenweit konnte niemand sie hören. In ihrem Unterleib steckte ein Messer mit glühender Klinge, das sie zerfleischte.
    »Nein! Verschont mich«, schrie sie. »Ich wollte doch nichts Böses tun. Bitte!«
    Sie war Angie Goodie auf dem Kirchturm. Aber die Blitze trafen sie, nicht den Zauberstab, wieder und wieder, rissen sie in Stücke.
    Im Zimmer wurde alles weiß und still. Shell hob den Kopf und sah sich um. Trüb und ruhig war es und ein warmer Luftstrom schlug ihr entgegen. Sie befand sich überall und nirgends. Sie war ein Geist. Das Ungeheuer hatte sie umgebracht. Irgendwo spielte ein Klavier, in weiter Ferne, dann war die Brandung des Meeres zu hören, wie die Wellen auf der Ziegeninsel. Das Weiß um sie herum wurde zu einem Beigeton, dann zu einem zarten Gelb, wie Sand. Der Wind kräuselte es und plötzlich schritt ihre Mutter darüber hinweg, kam auf sie zugelaufen, den olivfarbenen Schal unter dem Kinn zu einem festen Knoten geschlungen, und der Wind blähte ihren Mantel aus Tweed. Shell, rief sie. Meine Shell. Da bist du ja. Ich habe den ganzen Tag nach dir gesucht, aber ich konnte dich nicht finden. Wohin bist du nur fortgelaufen, du unartiges Mädchen? Sie trat dichter an Shell heran und legte ihr beide Hände auf die Schultern, beugte sich über sie und schaute ihr in die Augen. Shell erwiderte ihren Blick. Sie erkannte ihr Spiegelbild in Mums Augen, durchscheinend, auf und ab tanzend. Gleich neben Mums Lachfältchen, die sich nach oben bogen wie ein halbiertes Lächeln, genau wie es bei der Bibliothekarin gewesen war. Mums Hand berührte ihre Stirn und strich eine feuchte Locke beiseite. Du hast Fieber, Shell. Du solltest nicht draußen unterwegs sein, wenn es so stürmt. Komm mit, Shell. Ich bringe dich nach Hause. Sie spürte Mums kühle Hand in ihrer Linken, dann in ihrer Rechten, vielleicht gab es ja zwei Mums, eine an jeder Seite. Shell drehte sich bald hierhin, bald dorthin, suchte verzweifelt nach Mums Gesicht, doch der weiße Nebel war zurückgekehrt. Mum, schrie sie. Geh nicht fort. Verlass mich nicht. Bitte geh nicht. Bitte.
    »Shell … Shell …«
    Die Worte wurden weicher, entfernten sich. Shell  … Irgendetwas bewegte sich fliegend von ihr fort. Mums Seele. Sie schoss davon wie ein Stein, der eine Klippe hinunterrollte, der den Hang hinabschlitterte und dabei immer schneller wurde. Dann wurde sie zu dem verirrten Schaf, das vom Felsvorsprung fiel, sich in der Luft drehte und drehte, sich überschlug, seinem Tod entgegen in die Tiefe stürzte. Nein, rief sie ihm nach. Nein. Komm zurück, Schaf, komm zurück.
    Die Felsen, das Meer, das Schaf verschwanden. Sie spürte eine Hand in ihrem Nacken. Sie befand sich in der Küche, kauerte in der Mitte einer Decke. Ihr Nachthemd war bis zu den Hüften hochgekrempelt. Ihre Unterarme stützten sich auf die Sitzfläche des Sessels. Unter ihren Knien war schwarzes Plastik. Und auf dem Plastik lag ein Klumpen, der rot und blau und braun und weiß aussah. Jimmy berührte ihn. Er hatte ein feuchtes Tuch und wischte den Klumpen damit sauber.
    »Du hast es geschafft, Shell«, schnaufte er. »Es ist draußen.«
    Er wischte und es erschien ein Gesicht. Zwei hellblaue Augen. Eine winzige Nase. Ein kleiner Schmollmund.
    »Ich hab’s geschafft?«, keuchte sie.
    Die Arme waren um den Körper geschlungen, an ihren Enden waren winzige Finger, wie die einer Puppe.
    Etwas hatte sich um seinen Hals gewickelt.
    »Was ist … was ist dieses Ding da?«, flüsterte sie.
    Jimmy tat irgendetwas, zog daran, zerrte daran, ließ es über den Kopf des Babys gleiten.
    »Nimm es nicht weg … Es ist …«
    Kopfschüttelnd berührte sie es. Es war weißlich grau, wie eine seltsame Halskette.
    »Ist es eine Schnur? Ihr habt es doch nicht etwa mit Hilfe dieser Schnur rausgezogen?«
    »Nein«, sagte Jimmy. »Die Schnur haben wir nicht benutzt. Es kam raus, wie du gesagt hast. Von ganz allein.«
    Er holte die Schere hervor und schnitt das runde, dicke Etwas durch. Es

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