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Ein reiner Schrei (German Edition)

Ein reiner Schrei (German Edition)

Titel: Ein reiner Schrei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Dilatation, Erlaubt und Verboten, Vorher und Nachher.
    »Ihr macht mich ganz verrückt, ihr zwei.«
    Sie rieb sich mit dem Seifenstück unter den Armen. »Reich mal den Waschlappen rüber, Trix.«
    »Wenn du ein zweites Loch bohren würdest, Shell …«
    »Was?«
    »In meine Flügel. Und noch eine zweite Schnur durchziehst. Und sie in der Mitte verknotest …«
    »Wir versuchen es später«, versprach Shell. »Raus mit dir. Schieb ab.«
    Die nächste Schmerzattacke überfiel sie im selben Moment, als Trix das Bad verließ. Da stehet vor uns ein leuchtender Stern. Shell drehte sich um, ging auf die Knie und presste den Kopf gegen die Glasur der Badewanne. Uuuääruuuuu  … Der Laut dröhnte ihr in den Ohren, tief und heftig. Mr Duggans Kuh musste zu ihr in die Wanne gestiegen sein. Nicht sie selbst stieß diese Laute aus, sondern die Kuh. Uuuääruuuuu …
    Zweimal ließ sie Wasser nachlaufen, aber inzwischen war kein warmes Wasser mehr im Boiler. Die Handtücher waren feucht und schmuddelig, aber sie trocknete sich ab, so gut es ging, und streifte die Kleider wieder über.
    Als sie in die Küche zurückkam, erwartete sie eine Überraschung. Jimmy und Trix hatten die Malsachen weggeräumt. Auf dem Tisch lagen nun ein Knäuel aus Schnur, eine Schere, eine Mülltüte aus Plastik und ein paar alte Puppenkleider von Trix. In der Mitte stand ein kleiner Pappkarton, etwas größer als eine Schuhschachtel. Der Deckel fehlte und das Innere des Kartons war mit einer dicken Watteschicht ausgepolstert.
    »Wir haben alles vorbereitet, Shell«, sagte Jimmy.
    Shell starrte auf den Tisch. »Vorbereitet?«
    »Für das Baby.«
    »Das Baby?«
    »Was denn sonst?«
    Trix grinste. »Ich hab dir doch gleich gesagt, dass es zu Weihnachten kommt.«
    Jimmy klopfte sich auf den Bauch. »Deswegen klingst du auch wie Mr Duggans Kuh. Das Baby kommt raus, stimmt’s?«
    Shell nickte. »Ich glaube, ja«, gab sie zu. Sie ging zum Tisch und betrachtete ihre Gaben, griff nach der Schnur und der Schere und erschauerte. Was, wenn … Episiotomie und Sektio…
    »Ich glaube nicht, dass wir das hier brauchen werden«, sagte sie, legte beides wieder hin und nahm den Müllbeutel in Augenschein. »Wozu soll der denn gut sein?«
    »Für den ganzen Schmodder. Die Nachgeburt.«
    Shell schüttelte den Kopf. Sie nahm den Schuhkarton und befühlte die Watteschicht. »Das ist hübsch«, sagte sie.
    »Das ist eine Krippe, Shell«, erklärte Trix. »Die hab ich gemacht. Ich hab Watte reingelegt statt Stroh.«
    Shell nickte. »Viel besser als Stroh«, sagte sie und krümmte sich erneut.
    »Es geht wieder los«, sagte Jimmy.
    Diesmal überrollte der Schmerz sie wie ein Schwerlaster, der sie auf dem Asphalt platt walzte. Mittendrin schoss ein heißer Schwall zwischen ihren Beinen hervor.
    »Es kommt!«, schrie sie auf. Aber als der Schmerz sich knurrend wieder zurückgezogen hatte, blieb nichts als eine Pfütze auf dem Boden.
    Jimmy holte den Mopp.
    »Was ist das denn?«, fragte Trix, den Blick gesenkt. »Eine komische Farbe hat das.«
    »Das ist Badewasser«, sagte Shell. Ihre Zähne klapperten.
    »Nie im Leben.«
    »Doch.«
    »Igitt.«
    »Mach es weg.«
    Jimmy wischte es mit dem Mopp auf.
    »Ich bin ganz nass.« Shell musste plötzlich schluchzen und konnte überhaupt nicht mehr aufhören. »Mir ist eiskalt. Und ich bin nass bis auf die Haut.«
    Jimmy stellte den Mopp beiseite und legte beruhigend seine Hand auf ihren Ellbogen. »Komm mit, Shell«, ermunterte er sie.
    Sie führten sie ins Schlafzimmer und Trix half ihr, das Nachthemd anzuziehen. Sie deckten sie zu und legten ihre eigenen beiden Decken obendrauf.
    »Jimmy?«, krächzte Shell.
    »Was ist?«
    »Bist du so gut und bringst mir eine Schüssel? Die Plastikschüssel für die Wäsche.«
    »Warum?«
    »Mir wird schlecht.«
    Er kam mit der Schüssel wieder. Nach ihm kam Trix mit einer Tasse Tee und einem Keks. Anstatt sich zu übergeben, aß Shell den Keks und trank den Tee. Für einen kurzen Moment fühlte sie sich fast normal. Dann kam die nächste Wehe, dann die übernächste und die überübernächste, bis die Schmerzen bei ihr Schlange standen wie Ungeheuer, die im Vorübergehen nach ihr griffen, sich in ihr festbissen, ihr die Glieder auseinanderrissen.
    Shell wusste noch, dass sie irgendwann aus einem Tunnel auftauchte und nach der Uhrzeit fragte. Jimmy sagte etwas. Zwei Uhr. Wie konnte es denn zwei sein? Draußen war es stockdunkel. »Ihr müsstet doch in der Schule sein, ihr beide. Was habt ihr

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