Ein reiner Schrei (German Edition)
sein. Er unterlag der Schweigepflicht. Er würde ihr zuhören. Er würde ihr sagen, was zu tun war.
Sie betrat die Kirche. Seit Wochen war sie nicht mehr hier gewesen.
Niemand war dort. Der Wind jagte an den vier Wänden entlang im Kreis. Mit blinden Augen blickten die Statuen auf die Seitenschiffe hinab.
Die Macht der Gewohnheit ließ Shell den Finger ins Weihwasser tauchen und sich bekreuzigen. Sie knickste und schritt langsam zum Beichtstuhl hinüber. Die Tür des Sünders stand einen Spaltbreit offen. Über der Tür des Beichtvaters hing das Schild. Pater Rose. Sie betrat die Kabine des Beichtenden und kniete mit Mühe nieder.
»Pater?«, sagte sie. Es kam keine Antwort.
»Pater Rose?«
Nichts. Sie war allein. Auf der anderen Seite des Gitters zeichnete sich keine Gestalt ab. Möglicherweise waren in der Zeit ihrer monatelangen Abwesenheit die Beichtzeiten geändert worden. Vielleicht war ihm das Warten auf die Sünder auch zu lang geworden und er war bereits fort, zum Abendbrot.
Sie ließ den Kopf auf die feuchten Ärmel ihres Regenmantels sinken und redete.
»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, begann sie stockend. »Ich habe bei Meehan’s zwei BHs gestohlen. Ich habe mich mit Declan Ronan in Duggans Feld nackt ausgezogen. Nun bin ich schwanger und weiß nicht, was ich tun soll.«
Oh, Shell, schien ihr eine Stimme zu antworten, das ist ja eine ganze Litanei an Sünden. Aber es gibt nichts, was Gott dir nicht vergibt. Wenn du drei »Gegrüßet seist du, Maria« und ein »Ehre sei dem Vater« betest und versuchst all dies nicht wieder zu tun, wirst du rein sein wie der Regen und kommst auch in den Himmel.
Sie merkte, wie ihre Schultern bebten, wie sie halb kicherte, halb weinte. Jimmy hat Recht. Nur Dummköpfe können so etwas glauben. Sie erhob sich von der Kniebank und kletterte mühsam aus der Kabine. Fast hätte sie lauthals losgeprustet. Shell musste schlucken, um das Lachen zu unterdrücken. Sie sparte sich den Knicks vor dem Altar und eilte den Mittelgang entlang zur Tür, um möglichst schnell hinauszukommen. Der schwache Duft nach Weihrauch, die dunklen Schatten und die unheimlichen schweigenden Statuen bedrängten und umkreisten sie wie ein Schwarm Fledermäuse. Gerade als sie den Ausgang erreichte, hörte sie, wie sich die Tür zur Sakristei öffnete. Vom anderen Ende der Kirche näherten sich beschwingte Schritte. Shell erstarrte.
»Hallo. Ist jemand gekommen, um zu beichten?«
Es war die Stimme von Pater Rose, der in die Dunkelheit hineinrief. In der Leere des Raumes klang sie sonderbar tonlos.
Shell blieb reglos an der Seitentür stehen. »Nein, Pater«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Bist du das etwa, Shell?«
Seine Worte strahlten plötzlich Wärme aus, hatten diesen vertrauten Ich-weiß-genau-was-du-fühlst-Tonfall, den er ihr gegenüber immer angeschlagen hatte. Sie drehte den Kopf, vergrub ihre Hände tief in den Taschen des Regenmantels. Er stand ein gutes Stück von ihr entfernt im Mittelgang, die Arme verschränkt, in einer schwarzen Soutane. Im schummerigen Licht der unbeleuchteten Kirche war sein Gesicht nicht zu erkennen.
»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.«
Sie lächelte unmerklich. »Ja, Pater. Ich bin es nur.«
»Bist du hergekommen, um zu beten?«, fragte er und trat einen Schritt vor.
Shell biss sich auf die Lippen. »Beten?«, stammelte sie, als wäre das Wort ihr unbekannt.
»Oder vielleicht einfach nur, um vor dem Regen Schutz zu suchen?«
Sie nickte. »Der Regen. Das war der Grund.«
»Kirchen, Shell«, sagte er und seine rechte Hand fuhr durch die Luft, als würde er einen unsichtbaren Vorhang zurückziehen. Sie hörte ihn seufzen und seine Hand sank wieder nach unten. »Wenigstens diesen Nutzen haben sie.« Die Sätze schallten den Gang hinunter zu ihr herüber, mit ineinander verhedderten Worten, die ihren Glauben in Fetzen rissen. Irgendetwas war ihm abhandengekommen, etwas wie die Halteleine eines Bootes oder das Geländer einer Treppe, so wie es ihr selbst auch abhandengekommen war. Es schien, als wären sie beide gestrandet, hier in demselben dunklen, verlassenen Ort der Hoffnungslosigkeit. Blindlings streckte sie den Arm in Richtung Tür. Sie konnte sich nicht umdrehen, sonst hätte er gesehen, was aus ihr geworden war, eine Schande, mit der sie niemals hätte leben können. Sie tastete nach der Klinke.
»Es stimmt, Pater«, sagte sie. »Diesen Nutzen haben sie auf jeden Fall.« Shell wusste kaum, was sie sagte oder meinte,
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