Ein Rest von Schuld - Rankin, I: Rest von Schuld - Exit Music
ebenso wenig im Aufenthaltsraum, allerdings stieg noch Dampf aus einem Wasserkocher auf. Sie durchquerte den Lagerraum und gelangte durch eine Tür auf einen weiteren Korridor, stieg dann die Treppe hinauf zum nächsten Stock. Hier befand sich der eigentliche Eingang. Hier warteten Angehörige darauf, ihre Lieben zu identifizieren, und hier wurde der anschließende Papierkram erledigt. Normalerweise war es ein Ort unterdrückten Schluchzens, stillen Nachdenkens und schauriger Stille. Nicht so heute.
Sie erkannte Nikolai Stachow auf den ersten Blick. Er trug denselben langen schwarzen Mantel wie bei ihrer ersten Begegnung. Neben ihm stand ein Mann, wohl ebenfalls ein Russe, vielleicht fünf Jahre jünger, dafür fast doppelt so groß und breit. Stachow redete erregt auf Derek Starr ein, der mit verschränkten Armen, die Beine leicht gespreizt, dastand, als rechnete er damit, dass es jeden Augenblick zu einer Prügelei kommen würde. Neben ihm Reynolds und hinter den beiden die vier Mitarbeiter des Leichenschauhauses.
»Wir haben ein Recht«, sagte Stachow gerade. »Ein verfassungsmäßiges Recht … moralisches Recht.«
»Und wir haben eine laufende Morduntersuchung«, erwiderte Starr. »Die Leiche muss für den Fall, dass weitere Tests erforderlich sein sollten, hierbleiben.«
Stachow hatte einen kurzen Blick nach links geworfen und Clarke entdeckt. »Helfen Sie uns, bitte«, flehte er sie an. Sie trat ein paar Schritte näher.
»Was ist das Problem?«
Starr funkelte sie an. »Das Konsulat möchte die sterblichen Überreste Mr. Todorows nach Russland überführen«, erklärte er.
»Alexander muss in seiner Heimat bestattet werden«, stellte Stachow fest.
»Hat er etwas Entsprechendes in seinem Testament verfügt?«, fragte Clarke.
»Testament hin oder her, seine Frau ist in Moskau begraben -«
»Was ich Sie hatte fragen wollen«, unterbrach ihn Clarke. Stachow hatte sich ihr ganz zugewandt, was Starr zu missfallen schien. »Wie genau ist seine Frau gestorben?«
»An Krebs«, antwortete Stachow. »Sie hätte operiert werden können, aber sie war schwanger und hätte das Kind verloren. Also hat sie es ausgetragen.« Stachow zuckte die Achseln. »Das Baby kam tot zur Welt, und mittlerweile hatte die Mutter nur noch wenige Tage zu leben.«
Die Geschichte schien allen Anwesenden die Streitlust genommen zu haben. Clarke nickte bedächtig. »Warum die plötzliche Eile, Mr. Stachow? Alexander ist vor acht Tagen gestorben … warum haben Sie so lange gewartet?«
»Wir wollen ihn lediglich in die Heimat zurückbringen, aus gebührendem Respekt vor seinem internationalen Ansehen.«
»Es war mir nicht bekannt, dass er in Russland ein besonderes Ansehen genoss. Sagten Sie nicht, der Nobelpreis sei in Moskau heutzutage ›nichts so Besonderes‹?«
»Regierungen können ihre Meinung ändern.«
»Sie wollen also damit sagen, dass Sie entsprechende Anweisungen vom Kreml haben?«
Stachows Augen verrieten nichts. »Da es keine Hinterbliebenen gibt, liegt die Verantwortung beim Staat. Ich bin befugt, die Herausgabe seiner Leiche zu fordern.«
»Aber wir sind nicht befugt, sie herauszugeben«, konterte Starr, der neben Clarke getreten war, um sich wieder in Stachows Blickfeld zu schieben. »Sie sind Diplomat und wissen, dass es bestimmte Reglements gibt.«
»Das heißt was genau?«
»Das heißt«, erklärte Clarke, »dass wir die Leiche hier behalten, bis wir behördlicher- oder richterlicherseits anderslautende Instruktionen bekommen.«
»Das ist skandalös!« Stachow zupfte an den Ärmeln seines Mantels. »Ich wüsste nicht, wie sich eine derartige Situation vor der Öffentlichkeit geheim halten ließe.«
»Na dann los, weinen Sie sich bei der Presse aus«, meinte Starr herausfordernd. »Sie werden ja sehen, wie weit Sie damit kommen …«
»Stellen Sie den Antrag«, riet Clarke dem Russen. »Mehr können Sie nicht tun.«
Stachow sah ihr in die Augen und nickte langsam, dann drehte er sich um und machte sich, gefolgt von seinem Fahrer, auf den Weg zum Ausgang. Sobald die zwei Männer verschwunden waren, packte Starr Clarke am Arm.
»Was machen Sie hier?«, zischte er.
Sie entwand sich seinem Griff. »Ich bin, wo ich von Anfang an hätte sein sollen, Derek.«
»Ich hatte Ihnen das Kommando in Gayfield übergeben.«
»Sie sind verschwunden, ohne auch nur ein Wort zu sagen.«
Vielleicht ahnte Starr, dass er bei dieser Auseinandersetzung nicht gewinnen konnte. Er warf einen Blick auf die Zuschauer –
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