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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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Rosenstrauch blieb im Sumpfe und wurde gepflegt, wie es die Voreltern getan hatten. Seine Wurzeln wurden immer wieder mit neuen Mischungen getränkt. Um den Wurm zu töten, den Meltau zu entfernen, erprobte man unzählige Rezepte, von denen jedes einzelne durch seinen Erfinder als das beste, ein zig wirksame Mittel angepriesen ward. So blieb es lange. Zwar wollte zuweilen jemand eine kleine Besserung in dem Aussehen des Strauches bemerken, aber dafür gab es wiederum viele, die behaupteten, es sähe jetzt nicht einmal mehr so gut aus als früher. Alles in allem konn te man nicht sagen, daß sich der Strauch merklich verändert hätte. Endlich kam eine Zeit, in der man allgemein daran verzweifelte, daß aus ihm je etwas werden könne, wenn er stehen bliebe, wo er stand. Der Gedanke, den Strauch zu verpflanzen, ward von neuem angeregt und diesmal beifällig aufgenommen. ‚Laßt es uns versuchen’, hieß es allgemein. ‚Vielleicht kann er anderswo besser gedeihen; denn wenn er hier stehen bleibt, so ist es mindestens zweifelhaft, ob er noch länger die Pflege lohnt.’ So geschah es, daß der Rosenstrauch der Menschheit verpflanzt ward. Er kam in gute, warme, trockene Erde, wo ihn goldenes Sonnenlicht umspielte, wo die Sterne um ihn warben, und ein milder Windhauch ihn umkoste.
    Da zeigte es sich, daß der Strauch wirklich ein Rosenstrauch war. Wurm und Meltau verschwanden, und die Zweige bedeckten sich mit den schönsten roten Rosen, deren Düfte die Welt erfüllten.
    Es ist ein Unterpfand der uns gesetzten Bestimmung, daß der Schöpfer in unser Herz ein unendlich hohes Ideal der Vollkommenheit gelegt hat, an dem gemessen das Erreichte stets unbedeutend erscheint, und das uns immer aufs neue in weite Fernen weist. Hätten sich unsere Voreltern eine Gesellschaft vorstellen können, wo die Menschen wie Brüder ohne Streit und Mißgunst, ohne Gewalttat und Betrug einträchtig beieinander wohnen; wo eine frei erwählte, nie drückende Berufsarbeit jeder Sorge um den kommenden Tag enthebt; wo sie sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt zu kümmern brauchen als Bäume, die von nie versiegenden Bächen bewässert werden – hätten sich unsere Voreltern, sage ich, eine solche Gesellschaft vorstellen können, so wäre sie ihnen als das Paradies selbst erschienen. Sie hätten erwähnt, daß der Himmel auf die Erde gekommen sei, sie hätten sich nicht träumen lassen, daß den Menschen darüber hinaus noch etwas zu wünschen und zu erstreben übrig bliebe.
    Aber wie steht es mit uns, die wir die Höhe erklommen haben, zu der sie emporblickten? Wenn wir nicht durch eine außergewöhnliche Veranlassung, wie die vorliegende, daran erinnert werden, daß es um die Menschheit nicht immer so bestellt gewesen ist wie jetzt, so fangen wir bereits an, dies zu vergessen. Nur mühsam kann sich unsere Einbildungskraft die Gesellschaftsordnung unserer Vorfahren von gestern und ehegestern vorstellen. Wir finden sie seltsam und lächerlich. Uns dünkt es keineswegs das Endziel, daß die alte Rätselfrage endlich gelöst worden ist, allen die Mittel zum Unterhalt so zu sichern, daß Sorgen und Verbrechen nie an sie herantreten. Wir bewerten das nur als eine Vorstufe für jeden Fortschritt, der der Menschheit wirklich würdig ist. Wir haben dank unse rer Neuordnung der Dinge bloß eine törichte, drückende und unnötige Bürde abgeworfen, die unsere Vorfahren daran hinderte, die wahren Zwecke des Daseins zu verfolgen. Wir haben uns der überflüssigen Kleider entledigt. um den Wettlauf beginnen zu können, nichts weiter. Wir gleichen einem Kinde, das soeben erst aufrecht stehen und gehen gelernt hat. Für das Kind bedeutet es ein wichtiges Ereignis, wenn es die ersten Schritte tut. Vielleicht wähnt es, daß ihm nach dieser Errungenschaft nur noch wenig zu erreichen übrig bleibt, aber schon nach einem Jahr hat es vergessen, daß es nicht immer gehen konnte. Sein Horizont ward größer, als es aufstand, er erweiterte sich, als es sich fortbewegte. Sein erster Schritt war in gewissem Sinne tatsächlich eine wichtige Begebenheit, jedoch nur als Anfang, nicht als Ende. Mit ihm begann die wahre Laufbahn des Kindes. Die Befreiung der Menschheit von der alle Kräfte des Körpers und Geistes verzehrenden Sorge um die leibliche Notdurft kann als eine Art Wiedergeburt betrachtet werden. Ohne sie wäre die erste Geburt ewig ungerechtfertigt geblieben, denn sie hätte uns in ein Dasein geführt, das nur eine Last war. Erst diese Wiedergeburt gibt

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