Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
Almosenspender verschwanden so gut wie die Bettler. Die Gerechtigkeit ließ der Barmherzigkeit nichts zu tun übrig. Die zehn Gebote wurden so gut wie überflüssig in einer Welt, wo es keine Versuchung gab zu stehlen; keine Veranlassung, aus Furcht oder um eines Vorteils willen zu lügen; keine Gelegenheit, jemand zu beneiden, weil alle gleich waren; nur geringen Anlaß zu Gewalttätigkeiten, da den Menschen die Macht genommen war, einander wehe zu tun. Viele Zeitalter hatten den alten Traum der Menschheit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verspottet, nun endlich war ihm Erfüllung geworden.
Wie in der alten Gesellschaft die Großmütigen, die Gerechten, die Zartfühlenden gerade infolge dieser ihrer Tugenden die Benachteiligten gewesen waren, so verloren in der neuen Gesellschaft die Hartherzigen, die Habgierigen, die Selbstsüchtigen ihre Macht. Jetzt zum erstenmal war es möglich, das eigenste Wesen der unverdorbenen menschlichen Natur zu erkennen. Denn zum erstenmal wirkten die Lebensbedingungen nicht mehr mit zwingender Gewalt auf eine Entwicklung der tierischen Eigenschaften der menschlichen Natur hin, wurde die Selbstsucht nicht länger durch einen Preis ermuntert, fand die Selbstlosigkeit ihren Lohn. Dem Kellerschwamm gleich in der freien Luft verdorrten jetzt die schlechten Neigungen, die bisher die guten erstickend überwuchert und in den Schatten gestellt hatten. Die edleren Eigenschaften blühten plötzlich so üppig empor, daß sich die Spötter in Lobpreisende verkehrten; zum erstenmal, seit es eine, Geschichte gab, geriet die Menschheit in die Versuchung, sich in sich selbst zu verlieben. Bald ward es klarer als klar, was die Priester und Philosophen der alten Welt nie glauben wollten: nämlich, daß die menschliche Natur ihrem eigensten Wesen nach gut und nicht böse ist; daß die Menschen ihrem natürlichen Sein und Wollen nach edelmütig und nicht selbstsüchtig sind; mitleidig und nicht grausam; brüderlich und nicht hoffärtig; hochstrebend, von der edelsten Liebe und Opferfreudigkeit beseelt, kurz wirkliche Ebenbilder Gottes und nicht bloß die Karikaturen auf ihn, als die sie erschienen. Seit ungezählten Generationen hatte auf der Menschheit beständig ein Druck der Lebensbedingungen gelastet, stark genug, Engel zu verderben. Er hatte den natürlichen Adel unseres Geschlechts nicht an der Wurzel zu treffen vermocht. Sobald er verschwunden war, schnellte auch die Menschheit gleich einem Baum empor, der nicht länger mit Gewalt zu Boden gezogen wird, sie stand wieder aufrecht da, wie es ihrem eigensten Wesen entspricht.
Die Sache sei kurz durch ein Gleichnis veranschaulicht: Die Menschheit vergangener Zeiten glich einem Rosenstrauch, der in einen Sumpf gepflanzt worden war. Er zog seine Nahrung aus trüben, morastigem Wasser, am Tage atmete er erstickende Nebelluft ein, und des Nachts fiel kalter, giftiger Tau auf ihn. Zahllose Geschlechter von Gärtnern hatten ihr. Bestes getan, den Strauch zum Blühen zu bringen. Aber ihre Bemühungen hatten kein Glück. Wenn es viel war, so trug der Strauch einmal eine halb offene Knospe, an deren Herzen der Wurm nagte. Viele behaupteten, dies Gewächs sei gar keine Rose, sondern ein schädlicher Strauch, der ausgerissen und ins Feuer geworfen zu werden verdiene. Die Gärtner meinten meist, der Strauch gehöre zwar zu den Rosen, jedoch zehre ein unausrottbares Übel an ihm, das lasse die Knospen nicht erblühen und mache das Gewächs selbst kraftlos und welk. Nur einige wenige hielten dafür, daß der Strauch gut sei, und daß nur der Sumpf an seiner Wurzel die Entwicklung hemme. Gebt dem Strauch besseres Erdreich, so wird er auch besser gedeihen, so sagten sie. Aber diese Leute waren keine gelernten Gärtner, und so wurden sie von jenen bloße Buchgelehrte und Träumer gescholten. Auch das Volk hielt sie meist dafür. Einige Gelehrte von großem Rufe verkündeten außerdem eine besondere Weisheit. Es mag möglich sein, so lehrten sie, daß der Strauch anderswo kräftiger gedeiht, aber für die Knospen ist es eine weit heilsamere Schule, den Versuch zu wagen, im Sumpfe die Kelche zu öffnen. Sie unter günstigen Bedingungen zu entfalten, wie leicht wäre das! Recht selten zwar würden die Knospen sein, die sich erschließen könnten, blaß und duftlos müßten die Blüten bleiben. Aber welch hohes moralisches Verdienst, auf Sumpfboden zu erblühen und nicht im geschützten Garten!
Die zünftigen Gärtner und Weisen behielten die Oberhand. Der
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