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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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unserem Leben Berechtigung, Zweck und Ziel. Mit ihr ist die Menschheit seitdem in eine neue Phase geistiger Entwicklung eingetreten. Höhere Fähigkeiten haben sich offenbart, deren Vorhandensein in der menschlichen Natur unsere Vorfahren kaum geahnt hatten. War das neunzehnte Jahrhundert von trüber Hoffnungslosigkeit und tiefem Pessimismus über die Zukunft des Menschengeschlechts erfaßt, so beruht die belebende und treibende Kraft unserer Zeit in der begeisternden Erkenntnis, daß unser irdisches Dasein überreich ist an Mitteln des Fortschritts, und daß der Vervollkommnung der menschlichen Natur keine Schranken gezogen sind. Die körperliche, geistige und sittliche Veredlung der Menschheit von Geschlecht zu Geschlecht wird als das große Ziel erkannt, das der höchsten Anstrengungen und Opfer wert ist. Wir sind überzeugt, daß die Menschheit jetzt zum erstenmal sich anschickt, Gottes Ideal ihrer selbst zu verwirklichen, und daß von nun an jedes kommende Geschlecht einen Schritt weiter nach aufwärts bedeuten muß.
    Fragt man, was wir erwarten dürfen, wenn ungezähl te Geschlechter dahingegangen sind? Ich antwortete: Weit dehnt sich der Weg vor uns, aber das Ende verliert sich im Lichte. Denn zwiefach ist des Menschen Rückkehr zu Gott, ‚der ; unsere Heimat ist’. Der einzelne kehrt zu ihm zurück durch den Tod, die Gattung durch die Vollendung ihrer Entwicklung, in der sich das göttliche Geheimnis völlig entfaltet, das in ihrem Keime verborgen liegt. Mit einer Träne für die dunkle Vergangenheit wenden wir uns der blendenden Zukunft zu, Das Auge verhüllend, eilen wir vorwärts. Der lange und traurige Winter der Menschheit ist vorüber. Ihr Sommer, hat begonnen. Sie hat ihre Puppenhülle durchbrochen und ihre Flügel frei entfaltet. Der Himmel liegt vor ihr.

 
27. Kapitel
Eine Liebeserklärung
     
    Am Sonntagnachmittag war ich von jeher zur Schwermut geneigt gewesen. Warum? das ist mir nie klar geworden. Alles erschien mir dann farblos, das ganze Dasein verlor seinen Reiz. Die Stunden, die mich gewöhnlich leicht auf ihren Schwingen dahintrugen, büßten ihre Flugkraft ein, senkten sich gegen Ende des Tages zur Erde nieder und mußten mit aller Macht vorwärts geschleppt werden. War es vielleicht, bis zu einem gewissen Grade eine durch Gewohnheit zur anderen Natur gewordene Ideenverbindung? Trotz der außerordentlichen Veränderung meiner Verhältnisse verfiel ich am Nachmittag meines ersten Sonntags im zwanzigsten Jahrhundert in tiefe Niedergeschlagenheit.
    Diesmal hatte mich jedoch nicht bloße Niedergeschlagenheit ohne jede besondere Ursache überkommen, nicht jene unbestimmte Schwermut, die ich schon erwähnt habe. Nein, heute war meine Gemütsstimmung die Folge meiner Lage, und gewiß sehr berechtigt. Herr Barton hatte in seiner Predigt auf die tiefe moralische Kluft hingewiesen zwischen dem Jahrhundert, dem ich angehörte, und jenem, in dem ich nun lebte. Ihre Wirkung auf mich war, daß ich mich vereinsamter fühlte als bisher. Wenn der Prediger auch noch so maßvoll und philosophisch in seiner Rede gewesen war, konnten doch seine Worte kaum verfehlen, in mir den Eindruck zu hinterlassen, daß ich als Vertreter eines verabscheuten Zeitalters bei meiner Umgebung ein Gefühl hervorrufen müsse, das aus Mitleid, Neugierde und Widerwillen gemischt war.
    Auch meine Gastfreunde mußten in Wirklichkeit die Gefühle teilen, mit denen mich ihre Zeitgenossen betrachteten. Daß ich mir darüber bis jetzt noch nicht klar geworden war, lag lediglich an der außerordentlichen Freundlichkeit, mit der ich von Doktor Leete und seiner Familie behandelt wurde, und vor allem an Ediths Güte. Nun aber, nach Herrn Bartons Predigt, war ein Zweifel nicht mehr möglich. So schmerzlich auch diese sich aufdrängende Erkenntnis war, ich hätte mich doch mit ihr so gut es ging abgefunden, soweit Doktor Leete und seine liebenswürdige Gattin in Frage kamen. Allein, es war mehr, als ich zu ertragen vermochte, daß sich mir die Überzeugung aufdrängte, auch Edith müsse diese Gefühle teilen.
    Die niederschmetternde Wirkung dieser verspäteten Erkenntnis einer so einleuchtenden Tatsache öffnete meinen Blick für etwas, das der Leser vielleicht bereits vermutet hat: ich liebte Edith.
    Erscheint dies etwa seltsam? Man erinnere sich der ergreifenden Szene, seit der wir uns nähergetreten waren, als ihre Hand mich aus dem Strudel des Wahnsinns riß; der Tatsache, daß ihre Sympathie der Lebensodem war, der mich in meinem neuen

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