Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
Vom Netzwerk:
Dasein aufgerichtet hatte und mir die Kraft verlieh, es zu ertragen; meiner Gewohnheit, in ihr die Mittlerin zwischen mir und der mich umgebenden Welt in einem Maße zu sehen, daß selbst ihr Vater sie nicht zu ersetzen vermochte! Konnte das ausbleiben, was schon durch die Lieblichkeit ihrer Erscheinung und ihres Wesens genügend erklärt worden wäre? Es war ganz unvermeidlich, daß sie mir als das einzige Weib auf Erden erscheinen mußte, und das in ganz anderem Sinne, als es sonst bei Liebenden der Fall zu sein pflegt. Jetzt, wo mir plötzlich zum Bewußtsein gekommen war, welch eitle Hoffnungen ich zu hegen begonnen hatte, litt ich nicht bloß, was ein anderer Liebender gelitten haben würde. Ich wurde dazu noch von einem Gefühl trostlosester Einsamkeit und größter Verlassenheit befallen, das kein anderer Liebender hätte empfinden können, und wäre er noch so unglücklich gewesen.
    Meine Wirte bemerkten offenbar meine gedrückte Stimmung und taten ihr Bestes, mich zu zerstreuen. Wie ich wohl sehen konnte, war besonders Edith meinetwegen bekümmert. Aber eine Freundlichkeit, die nur Mitleid war – wie ich mir sagen mußte –, hatte nach der törichten Art der Liebenden keinen Wert mehr für mich, seitdem ich wahnsinnig genug gewesen war, zu träumen, das junge Mädchen könnte mir mehr als bloße Sympathie schenken.
    Nachdem ich den größten Teil des Nachmittags auf meinem Zimmer verbracht hatte, ging ich gegen Abend in den Garten, um etwas auf und ab zu spazieren. Der Tag war trübe, herbstlicher Duft erfüllte die warme, stille Luft. Als ich an die Stelle der Ausgrabung kam, trat ich in das unterirdische Gemach und ließ mich dort nieder. „Dies“, sagte ich zu mir selbst, „ist die einzige Heimstatt’, die ich habe. Hier will ich bleiben und sie nie mehr verlassen.“ Mit Hilfe der vertrauten Umgebung suchte ich einen traurigen Trost darin, daß ich mich bemühte, die Vergangenheit ins Leben zurückzurufen und die Gestalten und Gesichter derer heraufzubeschwören, die mir in meinem früheren Dasein nahegestanden hatten. Es. war vergeblich. Diese Gestalten hatten kein Leben mehr. Seit fast hundert Jahren hatten die Sterne auf Edith Bartletts Grab, auf die Gräber meines Geschlechts herabgeblickt.
    Die Vergangenheit war tot, sie lag zermalmt unter der Last eines Jahrhunderts, und von der Gegenwart war ich ausgeschlossen. Nirgends gab es einen Platz für mich. Ich war weder tot noch eigentlich lebendig.
    „Verzeihen Sie, daß ich Ihnen gefolgt bin.“
    Ich blickte auf. Edith stand in der Tür des unterirdischen Gemachs und schaute mich lächelnd an, aber mit Blicken voll bekümmerter Teilnahme.
    „Schicken Sie mich fort, wenn ich Ihnen lästig fal le“, sagte sie. „Ihre Verstimmung ist uns nicht entgangen. Sie wissen doch, daß Sie mir versprochen haben, in einem solchen Falle zu mir zu kommen. Sie haben nicht Wort gehalten.“
    Ich erhob mich und ging auf die Türe zu, indem ich zu lächeln versuchte, was mir jedoch gewiß herzlich schlecht gelang, denn der Anblick von Ediths holder Gestalt ließ mich die Ursache meines Elends nur noch tiefer empfinden.
    „Ich fühlte mich ein wenig einsam, das ist alles“, sagte ich. „Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß ich infolge meiner eigentümlichen Lage so mutterseelenallein dastehe, wie nie ein menschliches Wesen zuvor? Man müßte ein eigenes Wort erfinden, um mein Gefühl der Vereinsamung zu beschreiben.“
    „Oh, so dürfen Sie nicht reden! … Sie dürfen sich nicht solchen Gefühlen hingeben! Sie dürfen nicht“, rief Edith mit feuchten Augen aus. „Sind wir nicht Ihre Freunde? Es ist Ihre eigene Schuld, wenn Sie uns nicht gestatten wollen, das zu sein! Sie brauchen sich nicht einsam zu fühlen!“
    „Sie sind unendlich gütig zu mir“, sagte ich, „aber glauben Sie denn, ich weiß nicht, daß es bloßes Mitleid ist, was Sie bewegt, süßes Mitleid, aber doch nur Mitleid? Ich müßte ein Narr sein, wollte ich mir verhehlen, daß ich Ihnen nicht wie andere Männer Ihrer Zeit erscheinen kann. Ich muß in Ihren Augen ein seltenes, unheimliches Wesen sein, ein aus unbekanntem Meer an den Strand geworfenes Geschöpf, dessen Hilflosigkeit trotz seiner Absonderlichkeit Ihr Mitleid erregt. Sie waren so gütig, und ich war so töricht, daß ich beinahe vergaß, es müsse notwendigerweise so sein, daß ich mir einbildete, ich könnte mit der Zeit – wie wir es zu nennen pflegten – Bürgerrecht in Ihrer Gesellschaft erlangen, mich als einen

Weitere Kostenlose Bücher