Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
die Erkenntnis nicht schwerer wog, warum überhaupt die Menschen noch lange die bereits erkannten schreienden Mißstände der bestehenden Gesellschaftsordnung weiter ertrugen oder sich damit begnügten, von kleinlichen sozialen Reformen zu reden. Sogar die Besten jener Epoche waren nämlich aufrichtig davon überzeugt, daß einzig und allein die schlechtesten Triebe der menschlichen Natur die zuverlässigen Grundlagen seien, auf denen sich eine feste und sichere soziale Ordnung aufbauen kön ne. Man hatte sie gelehrt – und sie glaubten es –, daß nur Habgier und Selbstsucht die Menschen zusammenhalte, daß alle menschlichen Vereinigungen zerfallen müß ten, sobald man durch irgend etwas die Schärfe dieser Trie be abzustumpfen oder ihre Wirksamkeit einzuschränken suche. Mit einem Worte: das gerade Gegenteil von dem, was uns heute selbstverständlich dünkt, wurde damals von den Leuten geglaubt und selbst von jenen, die sich von ganzem Herzen danach sehnten, etwas anders glauben zu können. Sie glaubten nämlich, daß die gesellschaftsfeindlichen und nicht die gesellschaftlichen Eigenschaften der Menschen die bindende Kraft seien, die die Nation zusammenhält. Sie erachteten es für vernünftig, daß die Menschen nur zu dem Zwecke zusammenlebten, einander zu übervorteilen und zu unterdrücken, übervorteilt und unterdrückt zu werden. Sie waren überzeugt, daß nur eine Gesellschaft von Dauer sein könne, die den gesellschaftsfeindlichen Trieben freien Spielraum gewährte, während eine Ordnung geringe Aussicht auf Bestand habe, die sich auf das Prinzip des Zusammenwirkens aller Kräfte zum allgemeinen Wohl und Nutzen gründete. Muß die Annahme nicht töricht scheinen, jemand könne wirklich glauben, daß Menschen sich je allen Ernstes zu derartigen Ansichten bekannt hätten? Und dennoch ist es eine feststehende geschichtliche Tatsache, daß unsere Urgroßeltern solcher Überzeugung waren. Ja, mehr noch, unsere Ahnen trugen damit Schuld daran, daß die Beseitigung der alten Gesellschaftsordnung so lange hinausgeschoben wurde, obgleich man die von ihr untrennbaren, unerträglichen Übelstände allgemein erkannt hatte. Gerade in dieser ihrer Überzeugung finden wir auch die Erklärung für den tiefen Pessimismus, der in der Literatur aus dem letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck gelangt; für den schwermütigen Ton der Dichtungen und den Zynismus des Humors jener Zeit.
Wohl fühlte man damals, daß das Menschengeschlecht unter unerträglichen Verhältnissen seufzte, aber man war ohne klarbewußte Hoffnung und bessere Zustände. Man war überzeugt, daß die Entwicklung die Menschheit in eine Sackgasse geführt habe, aus der es keinen Ausweg gab. Die Seelenstimmung der Menschen in jener Zeit wird grell durch Abhandlungen beleuchtet, die bis auf unsere Tage gekommen sind, und die in unseren Bibliotheken von Leuten nachgeschlagen werden können, die sich besonders für den Gegenstand interessieren. Darin werden alle möglichen Beweise von weither zusammengeschleppt, nur um darzutun, daß es trotz der jämmerlichen Zustände aus diesem oder jenem federleichten Grunde wahrscheinlich immerhin noch besser sei, weiterzuleben, statt zu sterben. Da man sich selbst verabscheute, so verabscheute man auch seinen Schöpfer. Der religiöse Glaube war allgemein im Niedergang begriffen. Nur bleiche und kalte Strahlen erhellten das Chaos auf Erden, und sie kamen aus einem Himmel, den Zweifel und Ängste mit dunklem Gewölk bedeckten. Daß Menschen an Gott zweifeln konnten, dessen Atem sie beseelte, daß sie die Hand dessen fürchteten, der sie geschaffen hat, erscheint uns jetzt buchstäblich als bemitleidenswerter Wahnsinn. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß Kinder, die bei Tag mutig sind, des Nachts vielleicht von törichter Furcht ergriffen werden. Seitdem ist für die Menschheit der Tag angebrochen. Im zwanzigsten Jahrhundert ist es sehr leicht, an einen Gott als den Vater der Menschen zu glauben.
Nur kurz, wie es in dieser Rede nicht anders sein kann, habe ich auf einige der Ursachen hingewiesen, die die Menschen darauf vorbereitet hatten, daß die alte in eine neue Ordnung der Dinge umgewandelt werden müßte. Nur kurz auch habe ich verschiedene Ursachen jenes Konservativismus der Verzweiflung angedeutet, der sich der sozialen Umgestaltung einen Augenblick lang entgegenstemmte, als die Zeit bereits erfüllt war, als die Verhältnisse die nötige Reife für die Neuordnung erreicht hatten. Sich
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