Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
der Ihrigen fühlen und Ihnen wie die anderen Männer Ihrer Umgebung erscheinen. Allein Herrn Bartons Predigt hat mir gezeigt, wie eitel ein solcher Wahn ist, und wie groß Ihnen die Kluft zwischen uns erscheinen muß.“
„Oh, diese unselige Predigt!“ rief Edith aus, indem sie vor Mitgefühl laut aufweinte. „Ich wollte ja, daß Sie den Vortrag gar nicht hören sollten. Was weiß Herr Barton von Ihnen? Er hat in alten, verstaubten Büchern über Ihre Zeit gelesen, das ist alles. Warum legen Sie seinen Worten Gewicht bei? Warum lassen Sie sich durch irgend etwas bekümmern und aufregen, was er sagt? Ist es Ihnen denn nichts wert, daß wir, die wir Sie kennen, anders empfinden? Liegt Ihnen nicht mehr daran, was wir über Sie denken, als was er meint, der Sie nie gesehen hat? Ach, Herr West, Sie wissen nicht, Sie können sich nicht denken, wie tief es mich schmerzt, Sie so traurig zu sehen. Ich kann es nicht ertragen! Was kann ich sagen, wie soll ich Sie davon überzeugen, daß wir ganz anders für Sie fühlen, als Sie glauben?“
Wie damals, als sie in jener ersten, entscheidungsvollen Stunde meines Lebens zu mir gekommen war, streckte sie mir mit Hilfe verheißender Gebärde die Hände entgegen. Wie damals ergriff ich ihre Hände und hielt sie in den meinen fest. Wie stark Edith erschüttert war, das ließ das Wogen ihres Busens, das Zittern der Finger erkennen, die in meiner Hand ruhten. Ihre Züge verrieten ihre feste Entschlossenheit, in einer Art göttlichem Trotz gegen alles anzukämpfen, was sich ihrem hilfsbereiten Mitleid entgegenstellen würde. Weibliches Erbarmen war sicherlich nie in holderer Gestalt erschienen.
Solcher Schönheit und solcher Güte vermochte ich nicht zu widerstehen. Es schien mir, daß unter den Umständen die einzig geziemende Antwort das Aussprechen der vollen Wahrheit sei. Natürlich hatte ich auch nicht einen Funken von Hoffnung, mein Gefühl erwidert zu sehen, aber ich fürchtete auch nicht, daß das Geständnis meiner Liebe Edith erzürnen könnte. Sie war zu mitfühlend, als daß dies möglich gewesen wäre. So sagte ich ihr denn: „Es ist höchst undankbar von mir, daß ich mich nicht mit der Güte begnüge, die Sir mir erzeigt haben und auch jetzt noch erzeigen. Aber sind Sie so blind, daß Sie nicht sehen, warum Ihre Güte nicht genug ist, mich glücklich zu machen? Sehen Sie nicht, daß es daher kommt, weil ich so wahnsinnig bin, Sie zu lieben?“
Bei meinen letzten Worten errötete Edith tief und schlug die Augen nieder, aber sie machte keinen Versuch, mir ihre Hände zu entziehen. So stand sie einige Augenblicke schwer atmend vor mir, dann ergoß sich dunklere Glut als je zuvor über ihre Wangen, und sie schaute mit berückendem Lächeln zu mir auf.
„Sind Sie sicher, daß Sie nicht selbst blind sind?“
Das war alles, was sie sprach, aber es war genug. So unerklärlich, so unglaublich es auch schien, die holde Tochter eines goldenen Zeitalters hatte mir nicht nur ihr Mitleid, sondern ihre Liebe geschenkt. Trotzdem glaubte ich, nur ein beseligender Traum hatte mich umfangen, selbst als ich Edith in meine Arme schloß. „Wenn ich von Sinnen bin, so laß es mich bleiben“, rief ich aus.
„Ic h bin es, die Sie von Sinnen halten müssen“, sagte sie bebend und entwand sich meinen Armen, als ich kaum ihre Lippen berührt hatte. „Oh, was müssen Sie nur von mir denken, daß ich mich jemand fast an den Hals werfe, den ich erst seit einer Woche kenne! Sie sollten meine Liebe nicht so bald erfahren, aber ich litt so viel um Sie, daß ich nicht wußte, was ich sagte. Nein, nein. Sie dürfen mich nicht eher berühren, als bis Sie wissen, wer ich bin. Dann, mein Herr, sollen Sie mich demütig um Verzeihung dafür bitten, daß Sie sich einbilden konnten, ich hätte mich zu schnell in Sie verliebt; ich weiß ja nur zu gut, daß Sie sich das einbilden. Wenn Sie erst wissen, wer ich bin, werden Sie gestehen müssen, daß es ganz einfach meine Pflicht war, mich auf den ersten Blick in Sie zu verlieben. Kein Mädchen mit Herz würde an meiner Stelle anders gehandelt haben.“
Man kann sich wohl vorstellen, daß ich herzlich gern alle Erklärungen für später aufgespart hätte. Allein Edith war fest entschlossen, mir nicht eher einen Kuß zu gewähren, bis sie von jedem Verdacht gereinigt sei, mir vorschnell ihre Liebe geschenkt zu haben. Ich war also gezwungen, dem lieblichen Rätsel ins Haus zu folgen. Als wir zu Ediths Mutter gekommen waren, flüsterte das junge Mädchen
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