Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
dieser errötend etwas ins Ohr und eilte fort, uns allein zurücklassend.
Wie merkwürdig auch mein Geschick bisher erschienen war, jetzt erst zeigte sich, daß ich den wunderbarsten Umstand noch nicht einmal erfahren hatte. Frau Leete erzählte mir, daß Edith die Urenkelin keiner anderen war, als meiner verlorenen Braut, Edith Bartlett. Vierzehn Jahre lang hatte diese mich betrauert, dann schloß sie eine Ehe aus Freundschaft, aus der ein Sohn entsprossen war: Frau Leetes Vater. Frau Leete hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber viel von ihr gehört, und als ihr eine Tochter geboren wurde, so gab sie ihr den Namen Edith. Dieser Umstand mochte das Interesse erhöht haben, das das heranwachsende Mädchen an allem nahm, was ihre Urahne betraf, ganz besonders aber an dem traurigen Geschick des geliebten Mannes, dessen Weib diese werden sollte, und der kurz vor der Hochzeit seinen Tod vermutlich in den Flammen seines Hauses gefunden hatte. Die Erzählung davon war wohl geeignet, das Mitgefühl jedes romantischen jungen Mädchens zu erwecken, wie viel tiefer aber mußte sie nicht Edith ergreifen, in deren Adern das Blut der unglücklichen Heldin floß! Zu den Familienerbstücken gehörten ein Bild Ediths Bartletts und von ihr hinterlassene Papiere, darüber ein Paket meiner Briefe. Diese gaben Edith Anhalt, sich eine bestimmte Vorstellung von meiner Person zu bilden, und alles zusammen hielt in ihr die traurige alte Geschichte lebendig. Sie pflegte ihren Eltern halb scherzend zu sagen, daß sie nicht eher heiraten werde, als bis sie einen Geliebten wie Julian West gefunden hätte, und solche gäbe es heutzutage nicht mehr.
Natürlich entsprangen solche Äußerungen nur den Träumen eines Mädchens, dessen Herz noch nie gesprochen hatte, und sie würden bedeutungslos geblieben sein, hätte man nicht an jenem Morgen im Garten das verschüttete Gemach entdeckt und herausgefunden, wen es beherbergte. Denn als man die anscheinend leblose Gestalt ins Haus getragen hatte, erkannte man sofort, daß das Bild in dem Medaillon auf meiner Brust das Edith Bartletts war. Hieraus sowie aus einem Zusammentreffen anderer Umstände hoch schloß man, daß ich niemand anders sein könne als Julian West. Nach Frau Leetes Ansicht würde das Ereignis auf das ganze Leben ihrer Tochter einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, auch wenn – wie dies anfänglich schien – jeder Gedanke an meine Wiederbelebung ausgeschlossen gewesen wäre. Unter den obwaltenden Umständen würde es wohl den meisten Frauen wie Edith ergangen sein: der Gedanke, daß eine geheimnisvolle Bestimmung des Schicksals ihr Los mit dem meinigen verbinde, hätte sich wahrscheinlich auch ihrer mit unwiderstehlicher Gewalt bemächtigt.
Frau Leete erinnerte noch an anderes. Von dem Augenblick an, wo ich einige Stunden später ins Leben zurückgekehrt war, hatte ich für ihre Tochter eine besondere Anhänglichkeit gezeigt und in ihrer Gesellschaft augenscheinlich einen besonderen Trost gefunden. Ich möge alle diese Umstände berücksichtigen und dann selbst urteilen, ob Edith mir beim ersten Zeichen meiner Liebe allzu schnell die ihrige geschenkt habe. Sollte ich dies trotz alledem meinen, so dürfe ich eins nicht vergessen: daß wir jetzt nicht im neunzehnten Jahrhundert, sondern im zwanzigsten Jahrhundert lebten, wo die Liebe sicherlich schneller entstehe und freimütiger bekannt werde als damals.
Von Frau Leete ging ich zu Edith. Als ich sie gefunden hatte, war mein erstes, sie bei beiden Händen zu ergreifen und lange und entzückt anzuschauen. Und während ich mich in die Betrachtung ihres Antlitzes verlor, es Zug um Zug prüfte, lebte in mir die Erinnerung an die andere Edith wieder auf. Das entsetzliche Ereignis, durch das wir auseinandergerissen worden waren, hatte diese Erinnerung bisher etwas verdunkelt, nun kam sie überwältigend zurück, und mein Herz schmolz in zärtlichen, wehmutsvollen und doch gleichzeitig sehr seligen Gefühlen. Sie, die mich meinen Verlust so tief empfinden machte, sollte ihn mir ja auch ersetzen! Es schien mir, als ob aus ihren Augen Edith Bartlett in die meinen blickte und mir Trost zulächelte. Mein Los war nicht nur das wunderbarste, sondern auch das seligste, das je einem Manne zugefallen ist. Ein zwiefaches Wunder war für mich geschehen. Ich war nicht an den Strand dieser fremden Welt geschleudert worden, um mich hier einsam und ohne Gefährten zu finden. Die verloren geglaubte Geliebte war mir zum Troste in einer neuen
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