Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
verlangt wurde noch durchführbar war. Es kam daher tagtäglich vor, daß viele, die gern gearbeitet hätten, keine Beschäftigung fanden, andererseits aber konnten sich auch Leute sehr leicht ganz oder teilweise ihrer Arbeitspflicht entziehen.“
„Wie ich vermute, ist die Arbeit nun wohl für alle zwingende Verpflichtung“, versetzte ich.
„Sie ist mehr selbstverständlich als zwingend“, erwiderte Doktor Leete. „Die Pflicht zu arbeiten gilt für so natürlich und vernünftig, daß kein Mensch mehr daran denkt, sie als einen Zwang aufzufassen. Jemand, der zur Arbeit gezwungen werden müßte, würde für sehr verächtlich gehalten werden. Wollte ich jedoch von der Arbeit als von einer Zwangspflicht sprechen, so würde ich Ihnen nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie unvermeidlich die Arbeit schlechterdings für uns alle ist. Unsere gesamte Gesellschaftsordnung ist völlig auf die Arbeit gegründet und mit ihr verwachsen. Wenn sich jemand seiner Arbeitspflicht entziehen wollte, so hätte er keine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu finden. Ein solcher Wunsch ist jedoch undenkbar. Wer ihn verwirklichen wollte, würde sich aus der Welt ausschließen, von der Verbindung mit seinesgleichen abschneiden, mit einem Worte: er würde Selbstmord begehen.“
„Ist die Dienstpflicht in der Arbeitsarmee eine lebenslängliche?“ fragte ich.
„Durchaus nicht. Die Arbeitspflicht beginnt später und endet früher, als dies durchschnittlich in Ihrer Zeit der Fall war. Im neunzehnten Jahrhundert waren die Arbeitsstätten mit Kindern und Greisen überfüllt. Im zwanzigsten Jahrhundert dagegen gehört die Jugendzeit der Erziehung, und das reife Alter, wo die Körperkräfte abzunehmen beginnen, ist für Ruhe und angenehme Erholung bestimmt. Die Arbeitspflicht dauert vierundzwanzig Jahre. Sie beginnt nach Abschluß der Erziehung mit einundzwanzig und endet mit fünfundvierzig Jahren; Nach dem fünfundvierzigsten Lebensjahre ist zwar jeder Bürger der Arbeitspflicht enthoben, allein bis zum fünfundfünfzigsten kann er im Notfall zur wirtschaftlichen Tätigkeit einberufen werden, wenn plötzlich ein großer Mehrbedarf an Arbeitskräften eintritt. Doch sind derartige Fälle nur selten, tatsächlich kommen sie so gut wie nie vor. Der fünfzehnte Oktober jedes Jahres heißt bei uns der Musterungstag. Die jungen Leute, die das einundzwanzigste Jahr erreicht haben, werden an diesem Tage zum Arbeitsdienst ausgehoben, und es findet die ehrenvolle Entlassung derer statt, die nach vierundzwanzigjähriger Arbeit das fünfundvierzigste Lebensjahr erreicht haben. Der Musterungstag ist für uns das große Ereignis des Jahres. Von ihm aus rechnen wir alle übrigen Ereignisse: er ist unsere Olympiade, die sich von der griechischen nur dadurch unterscheidet, daß sie alljährlich wiederkehrt.“
7. Kapitel
Berufsausbildung und Berufswahl
„Nachdem Sie Ihre Arbeitsarmee ausgehoben haben“, sagte ich, „muß meines Erachtens die Hauptschwierigkeit beginnen, denn dann hört die Ähnlichkeit mit der Militärarmee auf. Alle Soldaten haben das nämliche zu tun, und zwar etwas höchst Einfaches: sich im Gebrauch der Waffen zu üben, zu marschieren und Wache zu stehen. Im Arbeitsheer dagegen müssen zwei- bis dreihundert verschiedene Handwerke und Berufsarten gelernt und ausgeübt werden. Welches Verwaltungstalent wäre wohl weise genug, darüber zu entscheiden, welchen Beruf jedes einzelne Mitglied einer großen Nation betreiben soll?“
„Die Verwaltung hat mit der Entscheidung darüber gar nichts zu tun.“
„Wer entscheidet denn?“
„Jeder einzelne entscheidet die Frage für sich selbst, je nach seinen natürlichen Anlagen und Neigungen. Damit jedermann darüber im klaren sei, gibt man sich die allererdenklichste Mühe herauszufinden, welches in Wirklichkeit die natürlichen Anlagen und Fähigkeiten des einzelnen sind. Unser Arbeitsheer ist nämlich nach diesem Grundsatz organisiert: die natürliche Veranlagung jedes Menschen, sowohl die körperliche wie die geistige, muß darüber entscheiden, welchen Beruf er zum größtmöglichen Nutzen für die Nation und zu seiner eigenen Befriedigung ausüben kann. Niemand kann sich der allgemeinen Arbeitspflicht überhaupt entziehen, welche besondere Art der Arbeit aber ein jeder verrichten wird, das hängt von seiner eigenen freien Wahl ab, die nur in den Grenzen des Notwendigen geregelt ist. Es ist von äußerster Wichtigkeit für die Zufriedenheit eines Menschen, daß er
Weitere Kostenlose Bücher