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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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veröffentlichen nämlich täglich ein Verzeichnis der Gänge, die am nächsten Tag zu haben sind. Ganz nach unserem Geschmack können wir uns das üppigste oder das einfachste Mahl aussuchen, aber alles ist selbstverständlich weit billiger und besser, als wenn es zu Hause hergestellt worden wäre. Meine Zeitgenossen legen großen Wert auf eine gute Küche und ihre weitere Vervollkommnung, und ich muß gestehen, daß wir ein wenig eitel auf die erreichten Erfolge sind. Gewiß, mein lieber Herr West, es gibt manche Einzelheiten der Zivilisation Ihrer Zeit, die bei weitem trauriger waren als ihre rückständige Ernährung. Allein es scheint mir, daß kaum eine von ihnen niederdrückender wirkte als die erbärmlichen Mahlzeiten, mit denen Sie abgespeist wurden, ich meine alle Leute, die nicht sehr reich waren.“
    „Niemand unter uns würde Ihnen in diesem Punkte widersprochen haben“, sagte ich.
    Jetzt trat der Kellner herein, ein hübscher junger Mann, in einer Uniform, die sich nur wenig von der gewöhnlichen Kleidung unterschied. Ich beobachtete ihn sehr genau, denn es war zum erstenmal, daß ich das Benehmen eines tätigen Mitglieds des Arbeitsheeres studieren konnte. Nach allem, was ich gehört hatte, mußte der junge Mann hochgebildet sein und in jeder Hinsicht denen vollkommen gleichstehen, die er jetzt bediente. Trotzdem versetzte die gegenwärtige Situati on weder den einen noch den anderen Teil in Verlegenheit. Doktor Leete verkehrte mit dem jungen Mann in einem Ton, der weder überhebend noch herablassend war, wie sich dies für einen gebildeten Mann von selbst versteht. Der junge Mann benahm sich wie jemand, der sich bemüht, eine ihm übertragene Pflicht gewissenhaft zu erfüllen. Ebenso weit entfernt von Vertraulichkeit wie Unterwürfigkeit, glich seine Haltung der eines Soldaten auf seinem Posten, nur daß sie ohne militärische Steifheit war.
    Nachdem der junge Mann das Zimmer verlassen hat te, sagte ich: „Ich kann mich nicht genug wundern, daß solch ein gebildeter junger Mann in der Stellung eines Dienstboten zufrieden ist.“
    „Was bedeutet das Wort ‚Dienstbote’,“ fragte Edith, „ich habe es noch nie gehört.“
    „Das Wort ist jetzt veraltet“, erklärte ihr Vater. „Wenn ich es recht verstehe, so brauchte man es zur Bezeichnung von Leuten, die für andere Arbeiten verrichteten, die diesen ganz besonders unangenehm und zuwider waren, und die deshalb für verächtlich galten. Nicht so, Herr West?“
    „Das stimmt ungefähr“, erwiderte ich. „Persönliche Dienstleistungen, wie zum Beispiel bei Tisch aufwarten, waren Sache der Dienstboten. Sie galten zu meiner Zeit für so herabwürdigend, daß gebildete Leute lieber jedes Ungemach ertragen hätten, als sich zu solchen Diensten zu erniedrigen.“
    „Welch sonderbar verschrobene Idee“, rief Frau Leete mit dem Ausdruck größter Verwunderung aus.
    „Aber diese Arbeiten mußten doch verrichtet wer den“, sagte Edith.
    „Gewiß“, versetzte ich. „Aber wir ließen sie von Armen verrichten oder von Leuten, denen keine andere Wahl freistand, wenn sie nicht Hungers sterben wollten.“
    „Und die Last, die Sie diesen Leuten auferlegten, machten Sie durch Ihre Verachtung der Dienenden noch schwerer“, fügte Doktor Leete hinzu.
    „Es scheint mir, daß ich Sie nicht recht verstehe“, bemerkte Edith. „Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie gewisse Arbeiten für sich durch andere Leute verrichten ließen, und daß Sie dann diese Leute gerade wegen dieser ihrer Arbeiten verachteten? Oder daß Sie von ihnen Dienste annahmen, die Sie selbst ihnen nicht auch geleistet haben würden? Das können Sie doch unmöglich gemeint haben, Herr West?“
    Ich mußte zugestehen, daß zu meiner Zeit Tatsache gewesen war, was dem jungen Mädchen heute unmöglich dünkte. Glücklicherweise kam mir Doktor Leete bei dem peinlichen Bekenntnis mit einigen Erläuterungen zu Hilfe.
    „Um Ediths Verwunderung zu begreifen“, sagte er, „müssen Sie wissen, daß es gegen unsere Auffassung von Moral verstößt, von jemandem einen Dienst anzunehmen, den man ihm nötigenfalls nicht auch leisten würde. So zu handeln wäre für uns genau so unmoralisch wie mit der Absicht zu borgen, seine Schuld niemals zu bezahlen. Die Armut und Not eines Menschen auszunutzen, um solche Dienste von ihm zu erzwingen, wird für ein ebenso großes Verbrechen erachtet wie schwerer Raub. Was denn ist die unheilvollste Wirkung jeder Gesellschaftsordnung, die die Menschen in

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