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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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Frische zurück. Die Gedanken, die seine Schilderungen in mir weckten, führten mich rückwärts und stellten mich von Angesicht zu Angesicht mit der Auffassung meines früheren Lebens. Klar und deutlich wie noch nie bisher sah ich jetzt Vergangenheit und Gegenwart wie Kontrastbilder nebeneinander.
    Das Genie des großen Romanschriftstellers aus dem neunzehnten Jahrhundert kann wohl den Zeiten Trotz bieten, wie das des unsterblichen Homer. Allein was der Gegenstand seiner ergreifenden Erzählungen gewesen war: das Elend der Armen, die Ungerechtigkeit der Mächtigen, die mitleidslose Grausamkeit der sozialen Ordnung – das alles war so vollständig vom Erdboden verschwunden wie Circe und die Sirenen, die Charybdis und die Zyklopen.
    In den ein oder zwei Stunden, die ich dasaß, mit dem offenen Buche vor mir, hatte ich nicht mehr als ein paar Seiten gelesen. Jeder Absatz, jede Zeile zeigten mir die Weltumwandlung von einer neuen Seite, in einem neuen Lichte und führten meine Gedanken auf weite, vielverzweigte Abwege. Während ich in Doktor Leetes Bibliothek sann und grübelte, erlangte ich allmählich eine klarere und zusammenhängendere Vorstellung von dem eigenartigen Schauspiel, das zu sehen mir durch die merkwürdigsten Fügungen vergönnt worden war. Größer und größer ward mein Staunen über die anscheinende Launenhaftigkeit des Schicksals. Hatte es nicht von allen meinen Zeitgenossen mir allein beschert, jetzt noch auf Erden zu weilen. Mir, das heißt einem Mann, der sich weder irgendwelcher Verdienste rühmen durfte, noch zu Außerordentlichem berufen schien! Ich hatte diese neue Welt weder geahnt noch für sie gewirkt, wie dies so viele meiner Zeitgenossen getan hatten, unangefochten durch den Hohn der Toren und die Mißdeutungen der Wohlwollenden. Sicherlich wäre es gerechter gewesen, daß einer jener prophetischen und kühnen Geister die Verwirklichung seiner Ideale gesehen und sich an ihnen erfreut hätte. Mein Schicksal zu erleben wäre jener Dichter tausendmal würdiger gewesen, der im Geiste bereits die Welt geschaut, die ich jetzt als greifbare Wirklichkeit vor mir sah. Hatte er sie nicht schon in Worten besungen, die mir in den letzten wunderbaren Tagen immer und immer wieder in den Ohren geklungen hatten? In „Lockleys Hall“ hatte Tennyson {13} eine Vision in tönende Verse gebannt, die ihm die fernste Zukunft enthüllte. Dort atmete und sprach eine dichterische Ahnung der neuen Welt mit all ihren Wundern. Dort war die Zeit des internationalen Völkerbundes vorausgesehen, die Zeit der Menschheitsverbrüderung, in der die Kriegstrommeln nicht mehr dröhnen und die Schlachtenbanner nicht mehr wehen; die Zeit, wo der gesunde Menschenverstand der Massen auch bei den temperamentvollsten Nationen triumphiert, und ein einheitliches allgemeines Gesetz die ganze Erde regiert. Denn im Wandel der Zeiten ist das Ideal der Menschen immer erhabener geworden, ihr Gedankenflug hat sich in immer höhere Regionen erhoben, und nun ist die Erfüllung edelsten Ringens und Strebens da.
    Wohl hatte Tennyson als Greis in manchem Augenblick den Glauben an seine eigene Prophezeiung verloren. Stunden der Mutlosigkeit und des Zweifels gehören zum Los jedes Propheten. Nichtsdestoweniger aber werden seine Verse ewiges Zeugnis ablegen von dem Seherblick, der dem Dichter eigen, und von der Erkenntnis, die das Erbteil des Glaubens ist.
    Doktor Leete holte mich aus der Bibliothek ab, in der mich Grübeleien und Träumereien stundenlang festgehalten hatten. „Edith erzählte mir ihren Einfall“, sagte er, „und ich hielt ihn für ausgezeichnet. Ich muß gestehen, daß ich ein wenig neugierig darauf bin, welchen Schriftsteller Sie für Ihre erste Lektüre gewählt haben. Ah, Dickens {14} ! Sie zählen also auch zu seinen Bewunderern? In diesem Punkte stimmen wir durchaus mit Ihnen überein. Wir sind der Überzeugung, daß er alle Schriftsteller seiner Zeit überragt. Aber nicht etwa, weil er das größte Genie besaß, sondern weil sein großes Herz für die Armen schlug, weil er die Opfer der damaligen Gesellschaftsordnung verteidigte und die Grausamkeit und den Trug dieser Gesellschaft schonungslos enthüllte und stäupte. Keiner seiner Zeitgenossen hat so viel getan wie er, um die Aufmerksamkeit auf das Unrecht und Elend der alten Ordnung der Dinge zu lenken und die Augen der Menschen der Erkenntnis zu erschließen, daß eine gewaltige Umwandlung der Verhältnisse not tat, obgleich er selbst diese Umwandlung nicht klar

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