Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
speisen wir dagegen meist außer dem Hause. Seit Sie unser Gast sind, haben wir unsere Gewohnheit durchbrochen, um Ihnen Zeit zu lassen, mit unseren Verhältnissen etwas vertraut zu werden. Was meinen Sie dazu, wollen wir heute im Speisehaus zu Mittag essen?“
Ich erwiderte, daß mir der Vorschlag nur angenehm sei. Bald darauf trat Edith lächelnd zu mir und sagte: „Gestern überlegte ich, wie ich Ihnen Ihren Aufenthalt bei uns erträglich machen könnte, bis Sie sich schließlich an uns und unsere Sitten gewöhnt hätten. Da kam ein Einfall. Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie in die Gesellschaft einiger recht lieber Leute aus Ihrer Zeit brächte, mit denen Sie sicherlich sehr gut bekannt gewesen sind?“
Ich erwiderte mit etwas unsicherer Stimme, es wür de mir gewiß ungemein angenehm sein, doch könnte ich nicht begreifen, wie sie dieses Kunststück zuwege bringen wolle.
„Kommen Sie nur mit“, gab sie lachend zur Ant wort, „und überzeugen Sie sich selbst, ob ich mein Wort nicht halten werde.“
Die vielen wunderbaren Erlebnisse der letzten Zeit hatten mich zwar gegen Überraschungen etwas abgestumpft, dennoch harrte ich voller Spannung der Dinge, die da kommen sollten. Edith führte mich in ein Zimmer, das ich bis jetzt noch nicht betreten hatte. Es war ein trauliches Gemach mit Bücherschränken an den Wänden.
„Hier sind Ihre Freunde“, sagte Edith, indem sie auf einen Schrank deutete. Ich ließ meine Blicke über die Namen auf den Bücherrücken schweifen: Shakespeare, Milton, Wordsworth, Shelley, Tennyson, Defoe, Dickens, Thackeray, Hugo, Hawthorne, Irving und viele andere große Schriftsteller aus meinen Tagen und allen Zeiten. Nun verstand ich den Sinn von Ediths Äußerung. Sie hatte wirklich Wort gehalten, und zwar in einer Weise Wort gehalten, die die buchstäbliche Erfüllung ihres Versprechens zur Enttäuschung für mich gemacht haben würde. Sie hatte mich in einen Kreis von Freunden geführt, die in den hundert Jahren, seit ich mich zum letztenmal an ihnen erfreut hatte, ebensowenig gealtert waren wie ich selbst. Ihr Geistesflug ging noch so hoch, ihr Witz war noch so glänzend, ihr Lachen und Weinen so ansteckend wie zur Zeit, als ihre Worte den Menschen eines versunkenen Jahrhunderts die Stunden im raschen Fluge entfliehen ließen. Nun war ich nicht länger einsam und konnte mich in so guter Gesellschaft auch künftighin nicht mehr einsam fühlen, wie weit auch die Kluft sein mochte, die zwischen mir und meinem früheren Leben gähnte.
„Freuen Sie sich nicht, daß ich Sie hierhergebracht habe?“ rief Edith glückstrahlend aus, als sie auf meinen Zügen den Erfolg ihres Versuches las. „Nicht wahr, Herr West, ich hatte eine gute Idee? Wie schade, daß ich sie nicht schon früher hatte! Ich will Sie nun mit Ihren alten Freunden allein lassen, denn ich weiß, daß diese jetzt für Sie die allerbeste Gesellschaft sind. Aber denken Sie daran, daß Sie über Ihre alten Freunde nicht Ihre neuen vergessen dürfen.“
Mit dieser scherzhaften Mahnung ließ sie mich allein.
Mich zog besonders der Name des Schriftstellers an, der mir vor allen anderen vertraut und lieb war. ich griff einen Band Dickens heraus, setzte mich und begann zu lesen. Dickens war von jeher mein Liebling unter den Schriftstellern des Jahrhunderts gewesen, ich meine natürlich, des neunzehnten Jahrhunderts. Selten war eine Woche meines früheren Lebens vergangen, ohne daß ich einen Band seiner Werke hervorgenommen hätte, um mit seiner Lektüre eine müßige Stunde auszufüllen. Jedes beliebige Buch, das mir von früher her bekannt war, würde unter den gegenwärtigen Umständen einen außerordentlichen Eindruck auf mich gemacht haben. Um wieviel tiefer mußte mich da nicht die wohlvertraute Kunst Dickens erschüttern, die geradezu überwältigend die Erinnerung an mein früheres Leben wachrief. Indem sie mich den unendlich großen Gegensatz zwischen dem Sonst und dem Jetzt voll empfinden ließ, brachte sie mir das Außergewöhnliche meiner Lage noch stärker als seither zum Bewußtsein. So neu und wunderbar auch eine fremde Umgebung für jemand sein mag, er wird bald anfangen, sich als einen Teil von ihr zu betrachten. Binnen kurzem verliert er die Fähigkeit, die neuen Verhältnisse objektiv zu beobachten und das Ungewöhnliche an ihnen richtig zu beurteilen. Diese Fähigkeit war bei mir schon etwas abgeschwächt worden, aber während ich Dickens durchblätterte, kam sie mir in ihrer ursprünglichen
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