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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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einem Geschlecht, das uns die Voreltern gab. Wir kennen es wohl, die Namen vieler seiner Glieder sind uns vertraut. Wir studieren die Lebens- und Denkweise Ihrer Zeitgenossen. Nichts, was Sie sagen oder tun, überrascht uns, wir selbst dagegen sagen und tun nichts, was Ihnen nicht fremdartig erscheinen muß. Wenn Sie trotz alledem fühlen, daß Sie sich mit der Zeit an uns gewöhnen können, so darf es Sie nicht überraschen, daß Sie uns von Anfang an kaum fremd vorgekommen sind.“
    „Ich habe die Dinge noch nicht von diesem Gesichtspunkt aus überdacht“, versetzte ich. „Es liegt tatsächlich viel Wahres in dem, was Sie sagen. Man kann leichter tausend Jahre zurückblicken als fünfzig Jahre vorwärts in die Zukunft. Für einen Rückblick bedeuten hundert Jahre gar keine so lange Zeit. Ich hätte ganz gut Ihre Urgroßeltern kennen können. Möglicherweise habe ich sie wirklich gekannt. Lebten sie in Boston?“
    „Ich glaube ja.“
    „Sie sind wohl dessen nicht ganz sicher?“
    „O doch“, versetzte Edith, „ich glaube es genau zu wissen.“
    „Ich hatte einen großen Bekanntenkreis in der Stadt“, fuhr ich fort; „es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich Ihre Vorfahren gekannt oder wenigstens von ihnen gehört habe. Vielleicht habe ich sie sogar sehr gut gekannt. Würde es Sie nicht interessieren, wenn ich Ihnen zufälligerweise recht viel über Ihren Urgroßvater erzählen könnte?“
    „Das würde mich sogar sehr interessieren.“
    „Sind Sie in der Geschichte Ihrer Familie so bewandert, daß Sie mir sagen können, welche von Ihren Vorfahren zu meiner Zeit in Boston lebten?“
    „Oja.“
    „Vielleicht nennen Sie mir einmal die Namen des einen oder anderen davon.“
    Edith war gerade damit beschäftigt, einen widerspenstigen grünen Zweig zurechtzurücken, und antwortete nicht sogleich. Schritte auf der Treppe kündeten, daß nun auch die übrigen Familienmitglieder herunterkamen.
    „Vielleicht ein anderes Mal“, sagte das junge Mädchen.
    Nach dem Frühstück machte mir Doktor Leete den Vorschlag, unter seiner Führung das Zentralwarenlager zu besichtigen und die mir von Edith beschriebenen Einrichtungen für die Verteilung der Güter in voller Tätigkeit anzusehen. Als wir von Hause fortgingen, sagte ich: „Ich nehme nun schon einige Tage lang in Ihrer Familie eine höchst eigentümliche Stellung ein, oder richtiger, ich nehme überhaupt gar keine Stellung ein. Bisher habe ich noch nicht mit Ihnen darüber ge sprochen weil so viele, weit merkwürdigere und stärke re Eindrücke auf mich einstürmten. Jetzt aber fange ich an, etwas Boden unter den Füßen zu fühlen und mir eines klarzumachen: wie auch immer ich hierhergekommen sein mag, nun bin ich hier und muß mich in meine Lage schicken. Jetzt kann ich nicht mehr anders, ich muß über diesen Punkt mit Ihnen reden.“
    „Ich bitte Sie, machen Sie sich noch keine Gedanken darüber, daß Sie als Gast in meinem Hause leben“, versetzte Doktor Leete. „Ich hoffe nämlich, daß wir Sie noch recht lange bei uns behalten werden. Ihre Bescheidenheit in allen Ehren – aber Sie müssen doch einsehen, daß ein Gast wie Sie eine Errungenschaft ist, die man nicht gern aufgibt.“
    „Besten Dank, Herr Doktor“, sagte ich. „Es würde eine alberne Ziererei sein, wollte ich mich weigern, vorläufig Ihre Gastfreundschaft anzunehmen. Verdan ke ich es doch Ihnen, daß ich nicht jetzt noch lebendig begraben den jüngsten Tag erwarte. Wenn ich aber berufen bin, für die Dauer ein Bürger dieses Jahrhunderts zu werden, so muß ich doch auch in ihm irgendeine Stellung ausfüllen. Die Existenz eines Menschen mehr oder weniger wäre zu meiner Zeit in dem großen unorganisierten Haufen nicht aufgefallen, der damals die Gesellschaft bedeutete. Niemand hätte sich darum gekümmert, woher er gekommen wäre, und er hätte sich irgendwo eine Stellung erobern können, vorausgesetzt, daß er nur die nötige Kraft dazu besessen. Heutzutage ist jedermann ein Teil eines organisierten, planmäßigen Ganzen, in dem ihm ein bestimmter Platz und eine bestimmte Tätigkeit zugewiesen sind. Ich stehe außerhalb dieses Ganzen und weiß nicht, wie ich ihm eingefügt werden könnte. Es scheint mir unmöglich, dieser gesellschaftlichen Ordnung eingegliedert zu werden, wenn man nicht in ihr geboren ist oder aus einem anderen, gleich organisierten Gemeinwesen einwandert.“
    Doktor Leete lachte herzlich. „Ich gebe gern zu“, sagte er, „daß unsere soziale Organisation insofern

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