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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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an einem unabhängigen, nicht amtlichen Organ mangelt, in dem die öffentliche Meinung zum Ausdruck gelangen kann. Gestehen Sie nur, Herr Leete, daß die freie Presse mit allen ihren Folgen ein wertvolles Gut unserer kapitalistischen Ordnung war, und daß ihr Eingehen ein Verlust ist, den Sie von den Vorteilen abziehen müssen, die Sie in anderer Hinsicht sich gutschreiben dürfen.“
    „Es tut mir leid“, versetzte Doktor Leete lachend, „daß ich Ihnen auch diesen Trost rauben muß. Erstens ist die Tagespresse nicht das einzige und unserer Ansicht nach auch nicht das beste Mittel, öffentliche Angelegenheiten gründlich und ernst zu erörtern. Uns scheint, daß die Zeitungen Ihres Jahrhunderts derartige Angelegenheiten in höchst unreifer und oberflächlicher Weise behandelten, daß ihre Darlegungen und Folgerungen durch Vorurteil und Verärgerung getrübt waren. Hält man die Tagespresse Ihrer Zeit für den Ausdruck der öffentlichen Meinung, so fällt ein ungünstiges Licht auf die Intelligenz des Volkes; hält man sie aber die Schöpferin der öffentlichen Meinung selbst, so muß man sagen, daß die Nation nicht zu beneiden war. Wenn heutzutage ein Bürger die öffentliche Meinung in einer nationalen Angelegenheit ernstlich beeinflussen will, so verfaßt er ein Buch oder eine Broschüre, die wie alle anderen Schriften herausgegeben werden. Das will jedoch keineswegs besagen, daß uns Zeitschriften und Zeitungen mangeln, oder daß diese ir gendeine Freiheit entbehren müßten. Umgekehrt, unse re Tagespresse ist derart organisiert, daß sie die öffentli che Meinung in weit vollkommenerer Weise zum Ausdruck bringt, als es zu Ihrer Zeit möglich war. Denn damals stand sie unter der Herrschaft des Kapitals und ward in erster Linie als Geldgeschäft und erst in zweiter als Mundstück des Volkes betrachtet.“
    „Aber“, sagte ich, „wenn die Regierung eine Zeitung auf öffentliche Kosten drucken läßt, so wird sie gewiß die Haltung des Blattes kontrollieren. Wer anders als die Regierung ernennt die Redakteure?“
    „Die Regierung zahlt weder die Kosten einer Zeitung, noch ernennt sie die Redakteure, noch beeinflußt sie im geringsten die Haltung eines Blattes“, versetzte Doktor Leete. „Die Leute, die eine gewisse Zeitung lesen, kommen für die Kosten auf, wählen den Redakteur und entlassen ihn, falls seine Leistungen sie nicht zufriedenstellen. Angesichts dieser Tatsachen werden Sie schwerlich behaupten, daß unsere Presse kein freies Organ der öffentlichen Meinung sei.“
    „Entschieden nicht“, erwiderte ich, „aber wie ist das möglich?“
    „Nichts einfacher als das“, antwortete mein Wirt. „Nehmen wir an, einige meiner Nachbarn und ich selbst wünschen eine Zeitung, die unsere Ansichten zum Ausdruck bringt und die Interessen unseres Ortes, unseres Gewerbes oder Berufes vertritt. Wir beginnen dann damit, die Unterschriften von Lesern zu sammeln, bis ihre Zahl groß genug ist, daß die Jahresbeiträge die Herstellungskosten der Zeitung decken. Die Aufwendungen für das Blatt richten sich nach der Zahl der Leser. Der Subskriptionsbeitrag jedes Bürgers wird auf seiner Kreditkarte notiert, die Nation ist also bei der Herausgabe einer Zeitung gegen jeden Verlust geschützt. Das ist ganz in der Ordnung, weil die Nation lediglich die Rolle eines Verlegers übernimmt, dem es nicht freisteht, die Herausgabe einer Zeitung oder Zeitschrift abzulehnen. Die Subskribenten wählen dann einen Redakteur, der während seiner Amtsdauer von jeder anderen Arbeit beurlaubt ist. Anstatt dem Redakteur ein Gehalt zu zahlen wie zu Ihrer Zeit, leisten die Subskribenten der Nation eine Entschädigung dafür, daß er der allgemeinen Arbeitspflicht entzogen wird, während er doch seinen Unterhalt weiter von der Allgemeinheit empfängt. Diese Entschädigung deckt sich mit der Höhe der Existenzkosten. Der Redakteur leitet die Zeitung gerade, wie es zu Ihrer Zeit geschah, nur daß er keine finanziellen Rücksichten zu nehmen hat und nicht für die Interessen des Privatkapitals auf Kosten des Gemeinwohls einzutreten braucht. Nach Ablauf eines Jahres betrauen die Subskribenten entweder den bisherigen Redakteur von neuem mit der Leitung des Blattes oder sie wählen einen anderen. Ein fähiger Redakteur verbleibt selbstverständlich lange in seinem Amte. Wachsen mit der Zahl der Subskribenten auch die Einnahmen des Blattes, so wird es verbessert; wie zu Ihrer Zeit werden dann mehr und tüchtigere Mitarbeiter

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