Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
fünfundachtzig bis neunzig Jahre alt, und meiner Ansicht nach sind wir mit fünfundvierzig Jahren körperlich und geistig jünger, als Ihre Zeitgenossen mit fünfunddreißig waren. Es deucht uns ganz sonderbar, daß Sie mit fünfundvierzig Jahren an das hereinbrechende Alter dachten und schon rückwärts zu blicken begannen. Wir treten dann gerade in den genußreichsten Abschnitt unseres Lebens ein. Zu Ihrer Zeit war der Vormittag, jetzt dagegen ist der Nachmittag die lichtere Hälfte des Lebens.“
Soviel mir erinnerlich ist, kamen wir nun auf Volksbelustigungen, Spiele und Sport zu sprechen und verglichen das im neunzehnten Jahrhundert Gebotene mit den Genüssen des zwanzigsten Jahrhunderts.
„In einer Hinsicht“, sagte Doktor Leete, „tritt ein sehr wesentlicher Unterschied zutage. Bei uns gibt es keine berufsmäßigen Sportsmänner mehr. Diese sonderbaren Gestalten Ihrer Zeit sind verschwunden, und nicht mehr in Geld bestehen die Preise, um die unsere Athleten kämpfen. Bei allen unseren Wertkämpfen geht es stets und allein um den Ruhm. Beständig finden Spiele und Turniere zu Wasser und zu Lande statt. Dafür sorgen der edle Wetteifer zwischen den Angehörigen der einzelnen Berufsgruppen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Anhänglichkeit, das jeden Arbeiter mit seinen Berufsgenossen verbindet. An diesen Veranstaltungen können die jungen Leute schwerlich ein stärkeres Interesse nehmen als die alten, ausgedienten Ehrenmitglieder der einzelnen Berufe. Nächste Woche findet bei Marblehead das Jachtwettsegeln der Genossenschaften statt. Sie können dann selbst urteilen, ob die Begeisterung Ihrer Zeitgenossen bei ähnlichem Anlaß sich mit dem allgemeinen Jubel vergleichen läßt, der heute dadurch ausgelöst wird. Das Verlangen des römischen Volkes nach ‚Brot und Spielen’ erkennt man gegenwärtig als vernünftig an. Wenn Brot die erste notwendige Bedingung für unsere Existenz ist, so ist Erholung die nächstfolgende; und die Nation sorgt dafür, daß der einen wie der anderen Rechnung getragen wird. Die Amerikaner des neunzehnten Jahrhunderts waren in der unglücklichen Lage, weder für das eine noch das andere dieser Bedürfnisse sorgen zu sorgen. Es fehlte an den nötigen Einrichtungen für bei de. Sogar wenn sich das Volk damals mehr freier Zeit erfreut hätte, so würde es doch oft in Verlegenheit gewe sen sein, wie es sie angenehm verbringen sollte. In die se Lage kommen wir niemals.“
19. Kapitel
Justiz und Verwaltung
Eines schönen Morgens suchte ich Charlestown auf. Es ist unmöglich, all diese Veränderungen im einzelnen aufzuzählen, die davon zeugten, daß ein Jahrhundert über den Stadtteil dahingegangen war. Sie waren zu zahlreich, doch fiel mir eine davon besonders auf: das alte Staatsgefängnis war verschwunden.
„Das wurde schon vor meiner Zeit abgetragen, aber ich erinnere mich, daß ich noch davon gehört habe“, sagte Doktor Leete, als ich beim Frühstück darauf zu sprechen kam. „Heutzutage haben wir keine Gefängnisse mehr. Alle Fälle von Atavismus werden in den Pflegehäusern behandelt.“
„Von Atavismus!“ rief ich höchlichst verwundert aus.
„Jawohl“, erwiderte Doktor Leete. „Schon vor fünf zig Jahren, ja, wenn ich mich recht erinnere, noch früher hat man es aufgegeben, gegen Unglückliche dieser Art mit Strafen einzuschreiten.“
„Ich verstehe Sie nicht ganz“, sagte ich. „Wir wendeten zu meiner Zeit das Wort Atavismus an, wenn bei jemand ein Wesenszug, eine Eigentümlichkeit besonders auffällig hervortrat, die einen der Vorfahren charakterisiert hatte. Soll ich Ihre Bemerkung dahin verstehen, daß man heutzutage die Verbrechen als Rückfälle in ererbte Eigentümlichkeiten erklärt?“
„Ich bitte um Verzeihung“, sagte Doktor Leete mit einem halb belustigten, halb entschuldigenden Lächeln, „aber da Sie mich so ausdrücklich fragen, muß ich gestehen, daß dem in der Tat so ist.“
Nach allem, was ich bereits über den Gegensatz zwischen den Moralbegriffen des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts gehört hatte, war es jedenfalls töricht von mir, mich von des Doktors Erklärung peinlich berührt zu fühlen. Hätte Doktor Leete nicht in einem so entschuldigenden Tone gesprochen, und wären Frau Leete und Edith nicht etwas verlegen geworden, so würde ich auch nicht errötet sein. So aber fühlte ich, daß ich rot wurde.
„Ich lief schon früher kaum Gefahr, auf meine Generation stolz zu sein“, sagte ich,
Weitere Kostenlose Bücher