Ein Rückblick aus dem Jahr 2000
bloße Formalität, gewöhnlich entscheidet sie einen vorliegenden Fall.“
„Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, daß ein Angeklagter schon freigesprochen wird, wenn er behauptet, unschuldig zu sein?“
„Das nicht“, versetzte Doktor Leete. „Niemand wird bei uns in Anklagezustand versetzt, wenn nur leichte Verdachtsmomente vorliegen. Wenn ein Angeklagter das ihm zur Last gelegte Verbrechen bestreitet, so muß folglich die Sache weiter untersucht werden. Jedoch kommt es nur selten dazu, weil der Schuldige meist ein Geständnis ablegt. Hat er fälschlich die Anklage bestritten und wird seiner Schuld überführt, so erhält er die doppelte Strafe. Die Unwahrheit ist jedoch bei uns so verachtet, daß ein Missetäter nur selten leugnen wird, um sich zu retten.“
„Das klingt am wunderbarsten von allem, was Sie mir bisher gesagt haben!“ rief ich aus. „Wenn das Lügen aus der Mode gekommen ist, so haben wir ja tatsächlich jetzt einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo Gerechtigkeit wohnt, wie der Prophet vorausgesagt hat.“
„Das glauben manche Leute heutzutage wirklich“, gab der Doktor zur Antwort. „Sie sind überzeugt, daß wir jetzt im Tausendjährigen Reich leben, und von ihrem Standpunkt aus hat der Glaube manches für sich. Dagegen sehe ich wirklich keinen Grund für Ihr Erstaunen, daß das Lügen aus der Welt verschwunden ist. Unwahrheiten waren doch schon zu Ihrer Zeit unter gesellschaftlich gleichstehenden Männern und Frauen nicht häufig. Die Lüge aus Furcht war die Zuflucht des Feiglings, die Lüge zum Zwecke des Betrugs das Mittel des Schwindlers. Die sozialen Ungleichheiten zwischen den Menschen, ihre Gier nach Besitz setzten immer wieder auf die Lüge einen Preis. Dennoch wur de Lug und Trug schon damals von denen verabscheut, die einander weder fürchteten noch betrügen wollten. Jetzt dagegen, wo soziales Gleichgewicht herrscht, niemand den anderen zu fürchten braucht, keiner von ihm durch Betrug etwas gewinnen kann, ist der Abscheu vor der Unwahrheit allgemein. Sogar jemand, der zum Verbrecher geworden ist, würde, wie schon gesagt, nur selten zu einer Lüge seine Zuflucht nehmen. Sollte ein Angeklagter seine Schuld leugnen, so ernennt der beauftragte Richter zwei Kollegen, von denen der eine alle dem Beschuldigten günstigen Umstände klarzulegen hat, der andere dagegen alle ihm ungünstigen Tatsachen. Diese Männer gleichen herzlich wenig den gemieteten Advokaten und Anklägern Ihrer Zeit, die von vornherein darauf ausgingen, für den Angeklagten Freispruch oder Verurteilung zu erzielen. Sie können dies schon daraus erkennen, daß ein Fall von neuem untersucht und verhandelt werden muß, wenn beide Richter nicht zu einem übereinstimmenden Urteil, gelangen. Es würde für einen unerhörten Skandal angesehen werden, wenn ein Richter irgendwelche Voreingenommenheit auch nur im Tone verraten wollte.“
„Habe ich Sie recht verstanden“, sagte ich, „daß es Richter sind, die sowohl das Für und das Wider eines Falles zu plädieren haben, wie es ein Richter ist, der den Urteilsspruch fällt?“
„Gewiß“, erwiderte Doktor Leete. „Die Richter wechseln für diese Funktionen in einer bestimmten Reihenfolge miteinander ab; bald sitzen sie auf der Gerichtsbank, bald plädieren sie für, bald wider die Anklage. Man erwartet von ihnen stets die gleiche richterliche Unbefangenheit und Unparteilichkeit, ganz gleich, ob sie die eine oder die ändere dieser Berufspflichten erfüllen. Unser Gerichtsverfahren läuft darauf hinaus, daß jeder Fall von drei Richtern untersucht wird, von denen jeder ihn von einem anderen Gesichtspunkt aus auffaßt und prüft. Gelangen nun alle drei übereinstimmend zu ein und demselben Urteilsspruch, so dürfen wir wohl annehmen, daß er der vollkommenen Wahrheit so nahekommt, als uns das überhaupt nur möglich ist.“
„Sie haben also die Geschworenengerichte abgeschafft?“
„Die Geschworenengerichte mögen ein recht gutes Aushilfsmittel gewesen sein, solange es noch gemietete Advokaten und Richter gab, die zuweilen käuflich waren und noch öfter sich in einer abhängigen Stellung befanden. Jetzt dagegen sind sie überflüssig. Bei uns ist es undenkbar, daß ein anderer Beweggrund als die Liebe zur Gerechtigkeit unsere Richter leitet.“
„Wie werden diese Richter gewählt?“
„Sie bilden eine ehrenvolle Ausnahme von der Regel, daß alle mit fünfundvierzig Jahren aus dem Dienste der Nation entlassen werden. Der Präsident der Nation
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