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Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Ein Rückblick aus dem Jahr 2000

Titel: Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Bellamy
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„aber tatsächlich …“
    „Die jetzige Generation ist die Ihrige, Herr West“, unterbrach mich Edith. „Es ist die Generation, in der Sie leben. Wir bezeichnen sie nur als die unsrige, weil auch wir in ihr leben.“
    „Ich danke Ihnen. Ich werde versuchen, ebenso in der Frage zu denken“, sagte ich, „und als meine Augen denen Ediths begegneten, sah ich darin einen Ausdruck, der meine törichte Empfindlichkeit verscheuchte.“
    „Übrigens bin ich als Calvinist {16} erzogen worden“, fügte ich lachend hinzu, „und ich sollte deshalb gar nicht erstaunt sein, daß man Verbrechen als einen Ausfluß erblicher Belastung betrachtet.“
    „Tatsächlich“, sagte Doktor Leete, „enthielt meine Redewendung vom Atavismus durchaus keine Anspielung auf Ihre Generation, wenn wir überhaupt mit Ediths Erlaubnis von den Leuten des neunzehnten Jahrhunderts als von Ihrer Generation sprechen dürfen. Wir dünken uns auch keineswegs Ihnen überlegen – außer in unseren besseren Lebensbedingungen. Wenn wir das Wort Verbrechen im weitesten Sinne nehmen, so daß es auch alle Arten Vergehen und Gesetzesübertretungen in sich begreift, so wurden in Ihrer Zeit volle neunzehn Zwanzigstel davon durch den ungleichen Besitz der einzelnen hervorgerufen. Der Mangel führte den Armen in Versuchung, den Wohlhabenden verführte die Gier nach größerem Gewinn oder der Wunsch, den alten Reichtum festzuhalten. Der Anreiz zu jeglichem Verbrechen war unmittelbar oder mittelbar der Durst nach Geld, das damals gleichbedeutend mit der Macht war, sich alle Güter und Annehmlichkeiten des Lebens zu verschaffen. Der Durst nach Geld war die Wurzel eines giftigen Riesenbaums, in dessen unheilvollem Schatten trotz des ganzen großen Apparates von Gesetzen, Gerichten und Polizei Ihre Zivilisation fast erstickte. Indem die Nation zur alleinigen Hüterin allen Reichtums geworden ist und allen ihren Gliedern ein reichliches Auskommen verbürgt, ist auf der einen Seite allem Mangel, auf der anderen aller Anhäufung von Reichtümern vorgebeugt. Damit war die Axt an die Wurzel des Giftbaums gelegt, der Ihre Gesellschaft überschattete, und er verwelkte in einem Tage, der Kürbisranke des Jonas {17} gleich. Schon zu Ihrer Zeit waren es nur ungebildete und rohe Menschen, die sich gewalttätiger Verbrechen gegen Personen schuldig machten, Verbrechen, bei denen die Gewinnsucht keine Rolle spielte und deren Zahl verhältnismäßig klein war. In unseren Tagen, wo Erziehung und gute Sitten nicht mehr das Vorrecht einiger weniger sind, sondern Gemeingut aller, hört man kaum noch von solchen Greueltaten. Sie verstehen wohl jetzt, weshalb wir das Wort „Atavismus“ statt Verbrechen anwenden. Es fehlen jetzt die Beweggründe für fast alle Arten von Verbrechen, die man zu Ihrer Zeit kannte. Wenn sie trotzdem vorkommen, so erklärt man sie durch Wiederauftreten von Charakterzügen, die von den Vorfahren her vererbt worden sind. Personen, die zu Ihrer Zeit ohne jeden verständlichen Grund stahlen, pflegte man als Kleptomanen zu bezeichnen; lag der Fall klar, so hätte man es für töricht erachtet, sie als Diebe zu bestrafen. Jetzt verfahren wir mit den Opfern des Atavismus genau so, wie Sie mit notorischen Kleptomanen verfuhren: wir lassen ihnen eine Behandlung angedeihen, bei der sich Mitgefühl mit strenger, doch milder Zucht paart.“
    „Ihre Gerichte müssen also gute Tage haben“, bemerkte ich. „Von Privateigentum ist nicht die Rede mehr, Streit über geschäftliche Angelegenheiten kommt zwischen den Bürgern nicht vor, es gibt keinen Grundbesitz zu teilen, keine Schulden einzuklagen. Zivilprozesse sind mithin ein Ding der Unmöglichkeit geworden, und da keine Verbrechen gegen das Eigentum und nur verschwindend wenig Kriminalfälle zu verhandeln sind, so können Sie meines Dafürhaltens fast ganz ohne Richter und Advokaten auskommen.“
    „Wir brauchen auch keine Advokaten mehr, gewiß nicht“, gab Doktor Leete zur Antwort. „In Fällen, wo es sich für die Nation gerade darum handelt, die Wahrheit an den Tag zu bringen, würde es uns nicht vernünftig erscheinen, Personen sich einmischen zu lassen, die ein ausgesprochenes Interesse daran haben, die Wahrheit zu verdunkeln.“
    „Aber wer verteidigt dann den Angeklagten?“
    „Wenn dieser schuldig ist, so bedarf es keiner Verteidigung, weil er selbst sich dann meist als schuldig bekennt“, erwiderte Doktor Leete. „Die Erklärung, die der Angeklagte abgibt, ist bei uns nicht wie bei Ihnen eine

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