Ein schicksalhafter Sommer
es sich ihre Tochter zur Regel gemacht, beinahe jeden Abend einen ausgedehnten Spaziergang zu machen. Und merkwürdigerweise schien der fleißige Robert nach einem Tag anstrengender Arbeit keineswegs zu erschöpft, um diese Angewohnheit zu teilen. Zumindest war er neuerdings abends nirgendwo mehr anzutreffen.
Ja, die beiden mussten sich schon einen Menge zu erzählen haben. Bisher hatte Luise sich mit der Tatsache getröstet, dass ihre Tochter schließlich den Karl an der Angel hatte und daher bestimmt nicht so dumm war, sich mit dem Knecht einzulassen. Aber in der letzten Zeit wurde es für Luise immer offensichtlicher, dass da irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Sie trommelte nervös auf die Lehne ihres Stuhles und sah erneut auf die Uhr. Es reichte. Luise erhob sich. Sie würde jetzt rüber zum Anbau gehen und sehen, was die beiden da trieben. Sie wollte sich gerade auf den Weg machen, als Katrin zur Tür herein kam.
„Kannst du mir mal sagen, wo du herkommst?“ Alarmiert beobachtete Luise, wie ihre Tochter errötete.
„Ich war kurz bei Robert.“
„Anderthalb Stunden!“
„Nein, Mama, du täuschst dich. Das waren nur ein paar Minuten. Vorher war ich noch woanders.“
„Wo denn?“
„In meinem Zimmer. Ich hab gelesen.“
„So, so.“ Es war schlimmer, als Luise vermutet hatte. Die grundehrliche Katrin hatte noch nie ein Talent zum Lügen gehabt. Dass sie es trotzdem versuchte, bestätigte Luises schlimmste Befürchtungen. Sie ließ sich wieder auf ihrem Platz nieder. „Dann setz dich jetzt mal her, Kind. Ich möchte mit dir reden.“
„Also, Mama, wenn ich ehrlich bin, würde ich mich jetzt lieber hinlegen. Mir ist irgendwie nicht gut.“
„Als du eben zur Tür reinmarschiert bist, hast du aber noch ganz rosig ausgesehen.“ Als Katrin nichts erwiderte, klopfte Luise auf den Stuhl neben ihrem. „Setzt du dich jetzt?“ Sie wartete, bis Katrin sich gesetzt hatte, ehe sie sie genauer betrachtete.
„Was siehst du mich so an, Mama?“ Unbehaglich warf Katrin einen prüfenden Blick auf ihre Kleidung.
Warum , fragte sich Luise alarmiert. Um sich zu vergewissern, dass auch alles an Ort und Stelle saß? „Du hast mir noch gar nichts erzählt, von dem Abend, als dein Verehrer dich nach Hause gebracht hat.“
„Da gibt es auch nicht viel zu erzählen.“
„Ich hatte gedacht, ihr wäret euch vielleicht näher gekommen. Wird es nicht Zeit, dass du den Karl endlich mal besuchen gehst?“, fragte sie mit flehender Stimme.
Katrin öffnete den Mund, schloss ihn wieder und holte tief Luft. „Ich werde ihn nicht besuchen gehen. Ich wollte es zuerst, um ihm gute Besserung zu wünschen, aber ich glaube, das würde ihn nur wieder ermutigen.“
„Und warum willst du das nicht? Wir haben alle gedacht, dass ihr euch endlich näher gekommen seid, nachdem er dich nach Hause gebracht hat, nach dem Fest.“ Luise griff nach jedem Strohhalm.
„Ja, ich weiß, dass ihr das alle gedacht habt. Und ich habe euch auch bewusst in dem Glauben gelassen. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall.“
„Er will dich also nicht mehr, wegen deiner Vertraulichkeit mit Kalter?“
„Nein. Ich will ihn nicht, Mama. Und das habe ich ihm gesagt.“
Luise seufzte schwer. „Es wäre alles so schön gewesen. Da hockst du hier Jahr um Jahr herum und dann kommt endlich einer daher, der dich haben will und was machst du? Schießt ihn in den Wind.“ Luise presste die Lippen zusammen. „Weil du einen anderen hast“, versuchte sie einen Schuss ins Blaue.
Katrin sah zur Seite und antwortete nicht.
„Du wirst dich noch umgucken, Mädchen.“
„Es tut mir leid, dass ich euch so enttäuscht habe, Mama. Ich weiß, wie gerne du den Karl als Schwiegersohn gehabt hättest.“ Katrin sah ihre Mutter wieder an.
„Glaubst du das? Dass du mich enttäuscht hast?“
„Ich glaub es nicht, ich weiß es.“
„Du solltest den Karl nicht für mich heiraten. Du solltest ihn heiraten, damit du versorgt bist. Damit du es einmal besser hast als wir.“
„Ich liebe ihn aber nicht, Mama.“
„Liebe ist nicht alles, Katrin.“
„Du hast leicht reden. Du hast doch aus Liebe geheiratet, oder nicht?“
„Und wohin hat es mich gebracht?“
„Mama!“, rief Katrin empört und entsetzt zugleich.
„Versteh mich nicht falsch, Katrin. Ich bin schon ganz zufrieden mit meinem Leben. Aber ich frage mich, ob nicht vieles einfacher gewesen wäre, hätte ich meine Wahl ein wenig klüger getroffen.“
Mit betroffenem Gesichtsausdruck
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