Ein Schritt ins Leere
entfernte sie sich. Bobby sprang gleichfalls auf, um ihr zu folgen, aber Frankie hielt ihn am Ärmel fest.
«Bleib hier, du Idiot. Überlass das mir.»
Sie lief hinter Moira her und kehrte einige Minuten später offenbar zufrieden zurück.
«Erledigt! Ich habe sie beruhigt. Es war ja auch peinlich, wie ihre geheimen Nöte und Ängste in Gegenwart einer dritten Person ausgeplappert wurden. Jetzt, da wir unter uns sind, will ich dir noch etwas verraten: Als ich vorhin die Bibliothek betrat, stieß ich dort auf Dr. Nicholson, der Sylvias beide Hände hielt. Das passt zu dem, was Moira dir eröffnete. Und noch etwas passt. Vor Tagen schilderte Sylvia zufällig, wie Moiras Bild, das auf dem Flügel steht, auf einen Gast großen Eindruck gemacht habe. Verlass dich drauf, Bobby, dieser Gast ist Carstairs gewesen. Er erkannte die Fotografie. Sylvia Bassington-ffrench erzählte ihm, es sei ein Bild von Mrs Nicholson. Siehst du, da haben wir die Erklärung dafür, wie er Moira aufstöberte. Nun aber die Sache mit der aus der Tasche des Toten entwendeten Fotografie: Wenn Roger sie überzeugend aufzuklären vermag…»
«Du wirst ihn doch nicht etwa fragen wollen. Frankie?», rief Bobby Jones erschrocken. «Wäre das nicht leichtsinnig?»
«Bobby, wenn er es erklären kann – und ich werde ihn dabei scharf beobachten, sodass mir auch die kleinste Unsicherheit in seinem Benehmen auffallen muss –, also wenn er es erklären kann, dann gewinnen wir in Roger möglicherweise einen sehr wertvollen Verbündeten.»
«Wieso, Frankie?»
«Mein Lieber, deine kleine Nicholson mag ein sentimentaler Hasenfuß sein, der Übertreibungen liebt; aber nehmen wir einmal an, dass sie es nicht ist, dass alles, was sie erzählt, wahr ist, dass ihr Mann sie wirklich loswerden will, um Sylvia Bassington-ffrench zu heiraten. Wird dir gar nicht klar, dass in diesem Fall auch Henry in größter Gefahr ist? Koste es, was es wolle, wir müssen seine Überführung in den Birkenhof verhindern. Und gegenwärtig steht Roger Bassington-ffrench auf Nicholsons Seite.»
«Gut überlegt, Frankie», erkannte Bobby an.
«Es kommt mir vor, als seien wir zwischen die Deckel eines Buches geraten», sagte sie. «Wir befinden uns mitten in der Geschichte eines Dritten. Es ist ein schauderhaftes Gefühl.»
«Ich würde es eher ein Theaterstück nennen als ein Buch, Frankie. Mir kommt es vor, als beträten wir mitten im zweiten Akt die Bühne und hätten nicht die geringste Ahnung, was sich im ersten Akt abgespielt hat.»
Frankie nickte eifrig. «Wer weiß, ob es der zweite Akt ist, Bobby. Ich finde, er gleicht mehr dem Dritten. Wir müssen ein beträchtliches Stück zurückgehen, und zwar sehr schnell, denn der Vorhang droht endgültig zu fallen.»
«Mit Leichen zur Linken und Leichen zur Rechten», ergänzte Bobby Jones düster. «Und was uns auf die Bühne brachte, waren sechs Worte. Sechs dämliche Worte, die völlig nichtssagend für uns sind: ‹Warum haben sie nicht Evans geholt?› Frankie, beinahe drängt sich mir das Gefühl auf, dass Evans, obwohl der Ausgangspunkt, an sich ganz unwesentlich ist. Es wird sein wie in jener Geschichte von Wells, in der ein Prinz um das Grab seiner Geliebten einen wundervollen Palast oder Tempel baute. Als aber alles fertig war, gab es ein kleines Etwas, das irgendwie nicht zu dem Ganzen passte. Entfernt es!, befahl der Prinz. Und das kleine Etwas war das Grab selbst.»
21
D as Glück war ihr hold, denn nicht weit vom Haus entfernt traf sie auf Roger.
«So schnell wieder von London zurück?», sagte er.
«Ach, London war langweilig.»
«Haben Sie Sylvia schon gesehen? Ja? Nicholson hat ihr die Wahrheit über den guten, alten Henry mitgeteilt. Das arme Ding! Sie scheint nichts geahnt zu haben.»
«Ich weiß. Die beiden saßen zusammen in der Bibliothek, als ich hereinkam. Sylvia war ganz fassungslos.»
«Henry wird geheilt werden. Er ist dem Gift ja noch nicht so sehr lange verfallen. Man muss in ihm den Wunsch wecken, von dem grässlichen Zeug loszukommen, muss ihm klar machen, dass er sonst alles, was ihm lieb ist, verliert. Sylvia, Tommy, sein Heim. Nicholson ist der Mann, der den richtigen Ton treffen wird und einen Erfolg gewährleistet. Er sprach gestern mit mir darüber. Er hat schon erstaunliche Resultate zu verzeichnen, sogar mit Leuten, die Jahre hindurch Sklaven des Morphiums gewesen sind. Wenn Henry einwilligt, in den Birkenhof…»
Hier unterbrach Frankie ihn.
«Ich will Sie etwas fragen –
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