Ein Schuss Liebe kann nicht schaden
geliebt hatte. Immer wieder würde er es ihr erzählen. Genauso wie er das Bild unten an der Wand liebte, genauso wichtig war dieses Bild hier für seine Tochter. Wie ein verwundetes Tier, das sich in einem versteckten Winkel zusammenrollte, hatte er sich von allem abgeschnitten und zurückgezogen. Dadurch steckte er immer noch so tief in seiner Trauer. Außerdem hatte er seiner Tochter bisher noch nie erzählt, dass ihre Mutter sie über alles geliebt hatte.
Jakob kniete sich neben sein Bett und betrachtete das Bild. Dann legte er es auf Naomis Hochzeitsquilt und strich mit seiner rauen Hand über die weichen Stoffstücke der Decke. In den kommenden Jahren wollte er seiner Tochter jeden Tag etwas von ihrer Mutter erzählen – und im Laufe der Zeit würde sich dann aus den vielen kleinen Stücken ein ganzes Bild ergeben, wie bei dem Quilt. Morgen würde er Emmy-Lou das Bild zeigen.
Statt seine Hände zum Gebet zu falten, umfasste er die Fotografie. „Herr, ich vermisse sie. Du weißt, wie sehr. Es gab so viel an ihr, das man einfach lieben musste. Du hast mir eine so wunderbare Frau gegeben. Bitte hilf mir, stark zu sein und mit Dankbarkeit und nicht mit Trauer auf die vergangenen Jahre zurückzuschauen. Und gib mir die Kraft, meine Erinnerungen mit meiner Tochter zu teilen, damit auch sie ein Stück ihrer Mutter in ihrem Herzen tragen kann.“
* * *
Die kühle Morgenluft wehte durch das weit geöffnete Fenster in die Küche. Hope legte den gewölbten Deckel auf das Einmachglas voller Erbsen und drückte die Metallklammer in die Rillen im Deckel, um das Glas zu verschließen. Danach stellte sie das Glas zu den anderen im Wasserreservoir.
Ein schneller Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch eine Ladung schaffen könnte, wenn sie sich beeilte. Während sie neue Kohlen in den Ofen schaufelte, dachte sie darüber nach, welche Arbeit heute auf sie wartete.
Ein leises Knarren auf der Treppe ließ sie herumfahren.
Dort stand Mr Stauffer mit offenem Hemd, herunterhängenden Hosenträgern und nackten Füßen. Eine Haarsträhne an seinem Hinterkopf stand kerzengerade hoch, als hätte sie sich gerade heftig erschrocken. Der besorgte Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelte sich bei ihrem Anblick in Verwirrung. „Du bist es!“
Sie nickte.
Plötzlich schien ihm sein halb nackter Zustand bewusst zu werden, denn er knöpfte schnell sein ausgeblichenes blaues Hemd zu und kam näher. „Was –“ Seine Stimme brach abrupt ab, als er die noch lauwarmen Einmachgläser auf dem Tisch entdeckte.
Hope legte den Zeigefinger an die Lippen.
Er schaute zur Treppe. „Es ist noch sehr früh.“
„Das hoffe ich doch.“ Sie drehte sich zum Herd und fischte Gläser aus dem Wasserreservoir. „Es wäre sehr nett, wenn Sie diese Gläser nicht erwähnen würden.“
Für einen Moment lang studierte er ihr Gesicht. „Du willst nicht, dass Annie es weiß.“
„Sie und ich, wir haben einen Pakt geschlossen, dass wir ihr die Arbeit leichter machen wollen.“ Das Wasser auf den heißen Gläsern verdampfte sofort. „Übrigens danke, dass Sie die Körbe aus dem Garten auf die Veranda getragen haben. Das war wirklich nett.“
„Ich dachte ...“ Er schüttelte den Kopf. Die Haarsträhne stand immer noch hoch und wippte mit.
„Ich setze sofort Kaffeewasser auf, dann ist er in nullkommanix fertig.“
Jakob hob die Augenbrauen. „Nullkommanix?“
Sie legte die Stirn in Falten. „Das hört sich an, als wäre der Kaffee eigentlich schon fertig. Das ist er aber gar nicht, sondern er braucht ja doch noch Zeit.“
„Man sagt das ja auch nur so.“
Hope nickte. Er war ein gelehrter Mann, aber er gab nie damit an. Und wenn er einmal etwas nicht wusste, dann versuchte er nicht, das Thema zu wechseln. Das zeugte von Verstand und Demut – das waren gute Eigenschaften. Da er nun schon wach war, konnte sie ihm auch gleich einen Kaffee kochen. Einen Augenblick später stand der Topf, den sie gestern Abend vorbereitet hatte, schon auf der Herdplatte.
„Ich habe all die großen weißen Bohnen gesehen, die du gestern geerntet hast.“ Er zog die Hosenträger über seine breiten Schultern. „Soll ich die Trockengitter wieder auf die Veranda legen?“
„Das wäre sehr nett von Ihnen.“ Sie stellte ein Tablett auf den Tisch. Die Gläser waren immer noch so heiß, dass sie Topflappen brauchte, um sie auf das Tablett zu stellen. Als das Tablett voll war, hob Mr Stauffer es hoch. „Sollen die Gläser in die Vorratskammer?“
Sie nickte.
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