Ein Schuss Liebe kann nicht schaden
willen, nein.“ Hope hob ihren Zeigefinger. „Wenn Bileams Esel jetzt hier wäre, würde er dir sagen, dass du deinen Verstand einsetzen solltest. Das würde er sagen. Keiner reitet nachts auf einem Pferd, wenn er ein Dach über dem Kopf hat.“
Ein Lächeln huschte über Annies Gesicht.
Überrascht schaute Jakob seine Schwester an. Er wusste nicht, wie Hope das schaffte, aber Annie hatte sich in den letzten Tagen verändert – sie lächelte sogar und schien Hope wirklich zu mögen. Und Hope redete sie jetzt auch mit ihrem Vornamen an. Diese kleinen Zeichen gaben Jakob neue Hoffnung. Mit der Zeit und mit ganz viel Liebe würde sich Annie vielleicht wieder erholen.
Hope musste lachen. „Diese Farm hier ist so groß und freundlich, dass Menschen und Tiere ein Dach über ihren Köpfen haben.“ Sie runzelte die Stirn. „Das hörte sich so an, als hätten hier alle mehr als einen Kopf. Hört mir einfach nicht so genau zu. Selbst mit nur einem Kopf seid ihr doch alle schlau genug, nicht durch die Nacht zu reiten und runterzufallen.“
„Papa?“, rief Emmy-Lou ängstlich aus ihrem Zimmer.
„Ja.“ Jakob stellte die Lampe sofort auf den Tisch und rannte die Treppe hoch. „Ich bin hier.“
Emmy-Lou stand im Türrahmen und hielt sich krampfhaft daran fest. Sie hatte Angst, aus dem Streifen Mondlicht in den dunklen Flur zu treten. Als sie ihren Vater sah, streckte sie ihm eine Hand entgegen. Sobald sie seine Hand spürte, warf sie sich zitternd in seine Arme.
Jakob hob sie hoch und drückte sie an seine Brust. „Siehst du! Ich bin hier.“
„Ich war ganz allein.“
Er war sich nicht ganz sicher, ob sie damit meinte, dass sie allein im Zimmer gewesen war oder ob es die Erinnerung an das dunkle Brunnenloch war. Die Erinnerung verfolgte sie beide immer noch. „Du bist nicht allein. Ich bin hier. Und Tante Annie auch.“
„Und Miss Hope?“
„Ja. Und Jesus.“ Sie klammerte sich so an ihm fest, als wollte sie in ihn hineinkriechen. Jakob beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Schläfe. Beruhigend redete er auf sie ein. Langsam entspannten sich ihre Muskeln wieder.
„Wie geht es ihr, Jakob?“, rief Annie von unten.
„Es ist immer noch schrecklich heiß. Ich wette, die kleine Emmy-Lou braucht einen Schluck kühles Wasser.“ Hope stand am Fuß der Treppe. Jakob bemerkte, dass sie seiner Schwester den Arm um die Schultern gelegt hatte, so, als wollte sie ihre Sorgen mittragen. „Soll ich eine Tasse hochbringen, oder wollt ihr beide runterkommen?“
„Papa“, flüsterte Emmy-Lou ihm ins Ohr. „Ich muss mal.“
Jakob trug seine Tochter nach unten. Annie nahm sie mit ins Arbeitszimmer, wo jetzt der Nachttopf stand. Als sie wiederkamen, wischte Hope mit einem kalten Lappen über Emmy-Lous Gesicht und Hände. „Hast du die schöne Musik von den Grillen gehört? Für mich hört sich das an, als hätte Jesus jeder kleinen Grille eine winzige Geige gegeben. Und jetzt spielen sie darauf Lieder und loben Gott.“
Emmy-Lou legte den Kopf auf die Seite und lauschte. Dann flüsterte sie: „Das sind ja ganz viele!“
„Genau. Ich denke, es gibt für jede einzelne Grille einen eigenen Stern am Himmel. Ich wette, dass jeder Stern anfängt zu funkeln, wenn er die schöne Musik hört. Dann scheinen sie genauso hell wie in der Nacht, als Jesus im Stall geboren wurde. Glaubst du nicht auch, Annie?“
„Ja. Hell und schön.“
Er wusste nicht, was die Frauen so miteinander redeten, wenn er nicht da war. Doch Jakob sah, dass Hope bereits wusste, dass seine Tochter Angst vor der Dunkelheit hatte. Ob sie auch wusste warum, war ihm im Moment egal. Ihre nüchterne Art und tröstenden Worte schienen Emmy-Lou zu beruhigen.
Hope legte den Lappen zur Seite und drückte Emmy-Lou eine kleine Tasse in die Hand. Emmy-Lou trank ein paar Schlucke Wasser. „Danke.“ Sie gähnte.
Hope nahm ihr die Tasse wieder aus der Hand. „Hast du dein Gute-Nacht-Gebet schon gesprochen?“
Emmy-Lou flüsterte: „Ja.“
„Das ist ein gutes Ende für jeden Tag. Da kann man alles zurück in Gottes Hand legen.“ Hope drückte sie kurz an sich. „Jetzt kannst du dich ja in deine Decke kuscheln und den Grillen zuhören, bis du wieder eingeschlafen bist.“
„Tante Annie ist auch müde. Sie wird mit dir oben bleiben, oder, Annie?“ Jakob schaute seine Schwester an.
„Ich bin müde.“
Annie und Emmy-Lou gingen nach oben. Jakob leerte den Nachttopf und stellte ihn dann wieder in die Ecke des Arbeitszimmers. Als er
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