Ein schwarzer Vogel
streckte mir ihre Hand entgegen, und ich hob meine Hand, aber Pancho wollte nichts von mir wissen. Er zuckte nervös und gab ein paar barsche Töne von sich, die ich nicht gleich verstand. Dona Grafton erklärte lachend: »Er sagt: >Geh weg.< Er spricht nicht sehr deutlich. >Lügner< kann er noch am deutlichsten sagen. Er ist goldig. Er steckt voller Unsinn. Ach, ich wollte, ich könnte ihn in das Haus bringen. Er ist nicht gewöhnt, so vernachlässigt zu werden, und er ist sicher durch den Tod von Mr. Cameron verstört.«
»Mr. Camerons Haus ist nicht sehr weit von hier?«
»Nur drei oder vier Straßen.«
»Besucht Pancho auch noch andere Orte?«
»Wir glauben, ja.«
»Wen meinen Sie mit >wir«
»Mr. Cameron und mich. Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, daß er...daß ihm das geschehen ist.«
»Sie glauben also, daß Pancho auch noch andere Häuser aufsucht?«
»Ja, aber wir wissen nicht genau, wohin er fliegt. Pancho ist ein sehr kluger, aber auch ein sehr verschwiegener Vogel, nicht wahr, Pancho? Manchmal war Pancho verschwunden, und weder Mr. Cameron noch ich wußten, wo er war. Es tut mir leid, Pancho, aber du bist mir zu schwer. Dona kann dich nicht die ganze Zeit auf ihrem Finger halten. Willst du nicht einmal zu Mr. Lam gehen?«
Sie streckte mir wieder die Hand entgegen, aber die Krähe zuckte zurück. Dona hob ihre Hand und gab Pancho einen kleinen Stoß in Richtung auf seinen Käfig.
»Lügner«, schrie die Krähe und dann: »Geh weg! Geh weg!«, während sie über das Holz in ihren Käfig zurückflatterte.
»Sie ist wirklich völlig durcheinander«, sagte Dona. »Ich versuche, sie aufzuheitern, aber sie ist mürrisch und gereizt. Wollen wir in das Haus zurückgehen, Mr. Lam?«
»Mr. Cameron reiste viel, nicht wahr? War Pancho während seiner Abwesenheit bei Ihnen?«
»Natürlich. Mr. Camerons Unternehmen liegen in Kolumbien, und es ist schwierig, eine Krähe auf eine so weite Reise mitzunehmen. Mr.
Cameron hielt sich gern auf dem laufenden, und darum fuhr er häufig nach Südamerika. Ich glaube nicht, daß ihm wirklich viel an den Reisen lag. Er hing sehr an Pancho und fühlte sich hier sehr wohl. Jedenfalls betreute ich Pancho für ihn, wenn er unterwegs war.«
»Ihr Vater ist tot«, fragte ich, während wir zum Hause zurückgingen, »aber Ihre Mutter lebt noch?«
»Ja.«
»Hier in der Stadt?«
»Ja.«
Die deutliche Zurückhaltung in ihrer Stimme ließ erkennen, daß ihr Fragen nach ihrer Mutter unangenehm waren und sie freiwillig nichts erzählen würde.
»Entschuldigen Sie, wenn ich zudringlich erscheine, aber hat Ihre Mütter wieder geheiratet?«
»Nein.«
»Sind Sie berufstätig? Ich weiß, daß das alles schrecklich persönlich ist, aber...«
Sie antwortete lächelnd: »Ach, das macht doch nichts. Sie müssen Ihre Story haben, um Geld zu verdienen. Ich arbeite freiberuflich.«
»Schreiben Sie?«
»Nein. Ich male Bilder, und manchmal verkaufe ich welche. Gelegentlich bekomme ich sogar einen richtigen Auftrag. Zum Beispiel habe ich für ein Werbebüro das Bild eines Mädchens gemalt, das mit wehenden Haaren an der Reling eines Schiffes steht. Ich werde es Ihnen mal zeigen.«
Sie nahm aus einem Wandschrank eine große Mappe heraus, öffnete sie und hielt mir ein Bild hin. Es stellte ein junges Mädchen dar, das an der Reling eines Schiffes gelehnt stand. Der Wind verwehte ihr Haar und ihren kurzen weißen Rock und legte ihre hübschen Beine frei. Ein weißer Pullover betonte die Formen, die eben ein Pullover betonen soll.
Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber das Bild gefiel mir ausnehmend. Es war sauber und klar, vielleicht auch nur durch die naturalistische Art, in der das Weiß verwendet und das Wehen des Windes dargestellt worden war. Es war ein Bild voller Leben. Man spürte die Erwartung, die in den Augen des Mädchens lag, das seinen Blick über den Ozean zum Horizont richtete. Das Mädchen schien in die Zukunft schauen zu wollen, einer Zukunft, der es freudig entgegensah. Die Falten des vom Wind gehobenen Rockes über ihren Beinen hinterließen den Eindruck, als liebe sie es, den Wind auf ihrer Haut zu spüren. Oberhalb der Strümpfe war ein kleiner Fleck auf der Haut zu sehen.
»Gefällt es Ihnen?« fragte sie und sah mich erwartungsvoll an.
»Ich finde es ausgezeichnet. Es spricht mich innerlich an. Ich empfinde mit, von welchen Intuitionen Sie sich bei der Schaffung dieses Bildes leiten ließen.«
Sie seufzte. »Ich malte es im Auftrag eines
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