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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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haben sollte, wie er ihn beseitigt hat. Sie werden den mitgebrachten Proviant verzehren und in den Wald pinkeln, Sheldon wird seine Socken trocknen und versuchen, es ihnen so gemütlich wie möglich zu machen. Erstaunlich, wie bequem es mit ein bisschen Know-how in einem trockenen Wald sein kann. Es ist besonders schön, wenn keine Koreaner im Unterholz herumschleichen. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit scheint es da eine vernünftige Gewissheit zu geben. Wenn sie ihn hier aufspüren, dann soll das vermutlich so sein.
    Morgen früh werden sie den Rest des Weges per Anhalter zurücklegen. Es ist ein wenig riskant, aber man kann sie jetzt nicht mehr mit Oslo in Verbindung bringen. Sofern also nicht eine landesweite Jagd auf sie ausgerufen wurde, werden sie vermutlich für die letzten neunzig Kilometer eine Mitfahrgelegenheit bekommen.
    Paul ist in ganz anderer Stimmung als Sheldon. Er trägt noch volles Ornat und sprudelt nur so vor Energie. Seine kleinen Füße tappen in dem Boot hin und her, er schaut über Bord auf den plumpen Traktor, deutet darauf und lächelt. Schade, dass er hier keine Großeltern hat, die ihn so sehen können. Die hätten einen Spaß!
    Großeltern wären auch nützlich, wenn man einen Elternteil verloren hat und der andere sich als nutzlos erweist, wie in Rheas Fall.

    Rhea erfuhr natürlich unweigerlich, dass es eine Generation von Menschen zwischen ihr und ihren Großeltern gab, und in ihren Zwanzigern machte sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter. Gerade frisch vom College kommend – aufsässig, vorschnell und leicht reizbar –, redete sie ständig davon, die Wahrheit herausfinden zu wollen. Die Suche nach ihrer Mutter sei ihre Mission und sie sei nun dafür alt genug.
    Er versuchte, es ihr auszureden. Leute, erklärte er ihr, gehen nicht so einfach verloren wie Socken. Sie klemmen nicht hinter Türen, in der Hoffnung, dass sie jemand dort finden möge. Sie verstecken sich. Und nicht vor jedem. Sie verstecken sich vor bestimmten Leuten. In diesem Fall vor ihr. Er hatte ihr erklärt, dass sein Uhrenladen, seit er ihn eröffnet hatte, kein einziges Mal umgezogen war und dass ihre Mutter also lediglich einen Brief zu schicken oder anzurufen brauchte. Ein Anruf, und die Verbindung zwischen Mutter und Tochter wäre wiederhergestellt. Doch nur eine Seite hatte Zugriff auf den Geheimcode, um das Gespräch anzustoßen, und Rhea war es nicht.
    Das wusste er, bevor sie alt genug war, um es zu verstehen. Ihre Erwartungen zu dämpfen war das Schonendste, was er tun konnte. Doch das College und die Schulbildung pflanzen auch den Allerintelligentesten oft krude Ideen ins Hirn, und Rhea machte sich daran, die ihren in die Wirklichkeit umzusetzen.
    Die Sache ging so schief, wie Sheldon befürchtet hatte, vielleicht etwas mehr noch, als Mabel vorausgesagt hatte, und sie brachte Rhea in eine Lage, die sie sich bis dahin nicht hatte vorstellen können.
    Es war unerheblich, wo Rhea sie fand. Es spielte keine Rolle, was sie anhatte oder womit sie gerade beschäftigt war. Was eine Rolle spielte, war der Ausdruck grenzenloser Entrüstung auf dem wettergegerbten, freudlosen Gesicht, als sie die Tür öffnete und sich ihrer erwachsenen Tochter gegenübersah. Die Erinnerung an jenen Moment – was sie in den Händen hielten, wie sie standen, was für ein Geruch am deutlichsten unter den anderen hervortrat – löste sich auf der Stelle in Einzelteile auf. Und die Worte ihrer Mutter löschten den Rest aus. Ihre Worte waren so deutlich, so klar und präzise, dass sie Rhea bis ins Mark trafen und jeden Traum zerplatzen ließen, jede Erklärung, jede Illusion, die sie zwanzig Jahre lang gehegt und gepflegt hatte, sodass nichts übrig blieb von der Gegenwart oder der Vergangenheit – mit Ausnahme der Realität dieser neuen Welt.
    Mit dir bin ich schon lange fertig!
    Und da drehte Rhea sich um und fuhr nach New York zurück, um wieder bei Sheldon und ihrer Großmutter zu wohnen.
    Lange Zeit sprach sie nicht darüber. Nach vier Monaten schnitt Sheldon das Thema schließlich mit einem ungelenken «Irgendwas nicht in Ordnung?» an.
    Der Uhrmacher- und Antikladen hatte sich in den Neunzigern mit dem Geschmack jener Zeit gewandelt. Sheldon hatte auf Lager, was die Leute mochten, und hielt dies für eine ziemlich unschlagbare Geschäftsstrategie. Während der Clinton-Jahre, als die Grundstückspreise stiegen und Sex auf einmal zum nationalen Dauerthema wurde, fanden die Leute wieder Gefallen an Designklassikern. Sheldon

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