Ein seltsamer Ort zum Sterben
bestimmt hat. Seit Stunden sind sie unterwegs. Der Junge hat vermutlich Hunger, und ganz bestimmt müssen sie beide pinkeln.
Was Sheldon vorhat, sollte man am besten bei Nacht erledigen, im Schutz der Dunkelheit. Das ist die richtige Zeit, um verrückte Ideen noch einmal zu überdenken. Der Moment, in dem man sie plötzlich sehr viel besser findet als noch ein paar Stunden zuvor.
Mit schmerzendem Rücken und steifen Fingern fährt Sheldon den Traktor an den Rand einer ruhigen, waldgesäumten Straße und schaltet den Motor aus. Er wartet eine geschlagene Minute, dann klettert er vorsichtig den vollen Meter vom Trittbrett zum Boden hinab.
Paul liegt im Schlauchboot und schläft. Er hat den Wikingerhelm nicht abgenommen, mit der rechten Hand umklammert er den langen Holzlöffel. Die Haarkugel hat er fürsorglich unter eine der Bänke gestopft. Sheldon lächelt und beschließt, ihn nicht zu wecken.
Als er den Traktor so vor sich stehen sieht, fällt ihm auf, wie groß er tatsächlich ist. Gut zwei Meter hoch. Die Reifen allein reichen ihm bereits bis zur Mitte der Brust. Nicht gerade leicht, dieses Monstrum zu verstecken – man kann nicht einfach eine orangefarbene Plane drüberwerfen und hoffen, dass es keinem auffällt.
Hier ist Bauernland. Er weiß nichts über seine Bewohner, hat keine Ahnung von ihrer Art, ihrem Alltag. Aber die Gegend strahlt etwas Harmonisches aus, sie kommt ihm weniger fremd vor als die Sprache der Leute. Die Menschen hier kennen sich vermutlich. Wahrscheinlich gibt es nur ein paar Schulen und nur wenige Klassen mit Schülern ganz unterschiedlichen Alters. Familien kennen sicherlich auch die Kinder anderer Familien. Man kennt hier die Autos und vielleicht sogar das Vieh der anderen.
Sie sind nicht weit von Oslo entfernt, und es ist auch nicht die komplette Einöde. Trotzdem halten die Menschen hier enger zusammen.
Es wäre klug, alles im Dunkeln zu erledigen. Denn das hier ist eindeutig eine Gegend, in der den Menschen ein Traktor auffällt, der nicht hierhergehört. Es ist vermutlich auch die Art von Ort, an der sie davon berichten würden, wenn jemand einen Traktor im See versenkt.
Wieder einmal, wie schon so oft in Sheldons Leben, scheint es da mehr als nur einen möglichen Fortgang der Handlung zu geben. Paul ist immer noch im Schlauchboot, und Donny betrachtet grübelnd dieses amphibische Freizeitfahrzeug. Am wichtigsten ist im Augenblick die Tatsache, dass er von einem Polizisten aus der Gegend angehalten wurde. Der ihn gefragt hat, ob er Amerikaner sei. Es gibt ein paar gute Erklärungen dafür. Eine wäre – aber daran glaubt er keine Sekunde –, dass sein gespielter schweizerdeutscher Akzent nicht gut genug gewesen ist, um diesen Provinzbullen zu täuschen. Nie und nimmer hätte er erraten können, dass Sheldon aus New England stammte.
Ausgeschlossen.
Die andere Erklärung ist weit beunruhigender und weit plausibler.
Er hat Paul zuliebe den Fernseher nicht eingeschaltet, weiß daher also nicht mit Sicherheit, ob die Polizei eine Vermisstenmeldung aufgegeben hat – sofern es so etwas hier überhaupt gibt. Aber es ist möglich, dass sie es getan haben und dass Rhea dahintersteckt. Selbst wenn dem nicht so ist, wird sie mit Sicherheit irgendwelchen Polizeibeamten von ihm und dem Jungen erzählt haben. Möglicherweise wurde er ja angehalten, weil eine bestimmte Beschreibung auf ihn passte.
Zum Beispiel: «Alter Mann, Ausländer, mit kleinem Jungen.»
Aber vielleicht hatte er auch Glück. Vielleicht hieß es ja: «Alter Amerikaner und kleiner Junge vermisst.» In diesem Fall waren Paul und er aus dem Schneider.
Wie auch immer, alles lief auf ein und dieselbe Schlussfolgerung hinaus: Dieser Traktor bedeutete Ärger und musste im Orkus verschwinden.
Er geht wieder zurück zum Schlauchboot, bindet es vom Anhänger los und prüft sorgfältig, ob es auch wirklich nicht mehr mit dem Hänger verbunden ist. Dann startet er den Motor erneut. Hustend und keuchend setzt sich das Monstrum in Bewegung, sodass Paul aufwacht. Sheldon bemerkt es, denn er sieht im Rückspiegel die Wikingerhörner auftauchen. Er dreht sich um und winkt. Zu seiner Freude winkt Paul zurück.
Er fährt wieder an, aber ganz langsam, er bleibt im ersten Gang, sucht nach einem anderen Weg, der parallel zu dieser Straße am See entlangführt. Kurze Zeit später hat er ihn gefunden.
Da das Gefährt keine Servolenkung hat, muss er sich hart ins Steuerrad legen wie ein Busfahrer im Innenstadtverkehr. Der Traktor
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