Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
Vom Netzwerk:
tauchte bei jeder Haushaltsauflösung auf und sicherte sich so manches Schnäppchen bei Auktionen. Als Rhea Anfang zwanzig war, quoll der Laden über: Max-Gottschalk-Ledersessel, Poul Kjærholms fragile Holz- und Stahlgebilde und Liegen von Eames. Die Wall Street boomte, und Retro war wieder auf der Agenda.
    Rhea saß in einem eiförmigen dänischen Sessel, der an einer Kette von der Decke herabhing. Was immer sie auf dem Herzen hatte, gleich würde sie damit herausrücken.
    «Warum fand Dad sie attraktiv?», fragte sie schließlich.
    «Oh, Rhea, das ist eine Frage für deine Großmutter, nicht für mich.»
    «Ich frag sie nachher. Aber bis dahin …»
    Sheldon zuckte mit den Achseln. Es gab nichts mehr, vor dem er sie hätte beschützen können – außer vor Lügen.
    «Ich glaube, er fand sie nicht attraktiv. Sie hatten nur eine kurze Affäre, und gleich darauf ging er in den Krieg. Sie hatte steile Kurven, war lustig drauf und ein guter Kumpel. Sie passte so offensichtlich nicht zu ihm, dass es auch schon egal war. Übrigens war sie wohl kaum das einzige Mädchen, mit dem er was hatte. Als er zurückkam, steuerte er vermutlich einfach erst mal den sichersten Hafen an, wenn man das so sagen will. Warum sie und keine andere, das weiß ich nicht. Dinge geraten in Vergessenheit. Geschichten verblassen.»
    «Ich bin also kein Kind der Liebe.»
    «Diese Frage trieft zu sehr vor Selbstmitleid, als dass sie deiner würdig wäre. Du weißt nur zu gut, dass deine Großmutter und ich dich anbeten. Meiner bescheidenen Meinung nach ist es besser, in Gleichgültigkeit gezeugt, dafür aber in Liebe erzogen zu werden als umgekehrt. Tut mir leid, dass diese Frau dich enttäuscht hat. Aber du hast nichts verpasst, weil es nichts zu verpassen gab!»
    «Ich will niemals Kinder haben!», verkündete sie.
    Sheldon setzte die Tudor-Submariner-Taucheruhr ab, an der er gerade arbeitete, und runzelte die Stirn.
    «Warum sagst du so was?»
    «Was, wenn ich sie nicht liebe? Scheint ja vorzukommen.»
    «Dir würde das nicht passieren.»
    «Woher willst du das wissen? Vielleicht hat es was mit Hormonen und so zu tun. Es heißt, alles ändert sich, wenn man Kinder hat.»
    Sheldon klang traurig, als er ihr widersprach.
    «Nicht alles ändert sich, wenn du welche bekommst. Alles ändert sich, wenn du sie verlierst.»
    Rhea wippte in dem Stuhl auf und ab, und als Sheldon «Wackle nicht mit dem Stuhl rum» sagte, hörte sie auf.
    Ganz unvermittelt, zumindest kam es Sheldon so vor, fragte sie:
    «Warum gehst du nicht mehr in die Synagoge?»
    Sheldon lehnte sich in seinem eigenen Stuhl zurück und rieb sich das Gesicht.
    «Warum quälst du mich?»
    «Tu ich nicht. Ich will es wirklich wissen.»
    «Es ist nicht so, dass ich dich gezwungen hätte, sie zu suchen. Ich bin vollkommen fair.»
    «Ich möchte wissen, weshalb. Ist es wegen Dad?»
    «Ja.»
    «Du hast aufgehört, an Gott zu glauben, als er starb?»
    «Das trifft es nicht ganz.»
    «Was dann?»
    Wie viele ihrer Gespräche hatten genau hier stattgefunden? Hier an diesem Ort, über einen Zeitraum von zwanzig Jahren? Alle? So kam es ihm vor. Es war, als gäbe es oben gar keine Wohnung. Keine Küche. Keine Rumpelkammer, kein Schlafzimmer. Sheldon saß einfach nur da, Jahr um Jahr, und wurde von diversen Frauen befragt. Die Antiquitäten wechselten, die Frauen wurden älter, doch Sheldon blieb, reparierte Uhren, beantwortete Fragen. Das einzige Gespräch in der Wohnung, das ihm in Erinnerung geblieben ist, war das mit Saul.
    «Weißt du, was Yom Kippur ist?», hatte er geantwortet.
    «Der Tag der Sühne.»
    «Weißt du, was da vor sich geht?»
    «Man bittet um Vergebung.»
    «Man bittet um zwei Arten von Vergebung», erklärte Sheldon. «Man bittet Gott, einem seine Verfehlungen gegen ihn zu vergeben. Aber man bittet auch andere Menschen, ihnen die Verfehlungen gegen sie zu vergeben. Das Zweite tut man nach jüdischer Sitte, weil es unserer Philosophie zufolge nur eines gibt, was Gott nicht kann. Er kann dir nicht vergeben, was du anderen Menschen angetan hast. Du musst sie direkt um Verzeihung bitten.»
    «Was der Grund ist, weshalb einem Mord nicht vergeben wird. Weil man die Toten nicht um Vergebung bitten kann.»
    «Genau.»
    «Warum hast du aufgehört, in die Synagoge zu gehen, Papa?»
    «Weil ich dich 1976 , in dem Jahr, als du auf meiner Türschwelle aufgetaucht bist und im Radio ständig ein Lied über ein sinkendes Schiff lief, an Yom Kippur in den Tempel mitnahm und darauf wartete, dass

Weitere Kostenlose Bücher