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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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folgt seiner Bewegung, und gleich darauf tuckern sie auch schon an der Westseite des kleinen Sees entlang.
    Nach fünf Minuten tut sich eine hübsche Lichtung auf, und Sheldon vollführt einen schwungvollen Schlenker nach links, um gleich darauf das Steuer scharf rechts einzuschlagen, sodass der Traktor – dies ist Stufe II der Operation «Unser Traktor muss verschwinden» – im rechten Winkel zum Seeufer zum Stehen kommt.
    Alles klappt ganz wunderbar. Nun muss er nur noch schnurstracks in den See fahren. Wenn er tief genug ist und der Traktor lange genug durchhält, wird er unter der Wasseroberfläche verschwinden, wo er hingehört, und das Schlauchboot wird sanft vom Anhänger auf das klare, helle Wasser gleiten, wo Paul dann den Motor anlassen und allein in die Ferne entschwinden kann, denn Sheldon wird am Steuerrad des Traktors unter Wasser sein Leben aushauchen.
    Allerdings ist das kein besonders ausgefeilter Plan.
    Ein Stock würde genügen. Er könnte ihn unter dem Sitz verkeilen, sodass er aufs Pedal drückt. Das würde vermutlich funktionieren.
    Das Dumme daran ist nur, dass er ein zweiundachtzigjähriger Mann ist. Wie, bitte schön, soll er in das davontreibende Gummiboot klettern? Soll er ein kleines Wettschwimmen veranstalten? Daraufhechten, wenn es vorbeizischt? Soll er Paul bitten, ihm den angewinkelten Arm hinzuhalten, damit er sich wie ein Cowboy beim Rodeo hochhieven kann?
    Fünf Minuten lang steht Sheldon da und redet auf Paul ein, den Wikingerjuden aus dem Balkan, der im Gummiboot steht. Beide haben die Hände in die Hüften gestützt. Sheldon deutet und gestikuliert. Er erklärt und zeichnet Bilder in seine Handfläche. Er macht ein zweifelndes Gesicht und erläutert ihre Möglichkeiten.
    Paul nickt.
    Sheldon lächelt.
    Es wird alles gutgehen.
    Schließlich lässt er den Motor an, klemmt den Stock unter den Sitz – wäre er Christ gewesen, er hätte er ein Kreuz geschlagen oder eins geküsst –, und schon setzt sich der Traktor in Bewegung.
    Es kann auch alles schiefgehen. Jemand könnte es sehen und glauben, es habe sich ein Unfall ereignet. Helikopter und Fernsehteams würden ihrem Unterfangen schaden. Sheldon könnte dem Boot hinterherschwimmen und – da er seit dreißig Jahren aus der Übung ist – ertrinken. Nichts von alldem wäre wirklich ideal.
    Wenn Bill auf der Bildfläche erschiene, könnte der vielleicht den Traktor fahren. Aber Bill taucht nicht auf. Dieser kapriziöse Mensch hat ein ziemlich egoistisches Timing!
    Wie sich herausstellt, geht es nicht schief. Es geht sogar überraschend gut.
    Zunächst einmal lacht Paul und gibt somit den ersten Laut seit dem Tod seiner Mutter von sich, und als das Boot sich vom Anhänger löst, schwimmt es sogar ein Stück
rückwärts
, was an den Wellen liegt, die der Traktor verursacht. Sheldon watet ins Wasser, bis es ihm an die Knie reicht, packt die Schleppleine und zieht das Boot wieder aufs Ufer zu, wo er – unter nur geringer Anstrengung – ein Bein über das Boot schwingt und sich hineinhievt.
    Der Traktor wehrt sich gegen sein wässriges Grab, doch vergebens. Dampf steigt vom See auf, der gurgelt und blubbert, schließlich aber die Mahlzeit in einem Happs verschlingt.
    Keuchend liegt Sheldon am Boden des Boots. Als er in den Himmel blickt, ist er erschrocken, wie erschöpft er ist. Was hat er denn gerade getan? Nicht viel nach den Maßstäben eines jungen Mannes, doch offensichtlich mehr als das Übliche für ihn selbst.
    «Alte Leute sollten wirklich fitter sein», befindet er.
    Sheldon setzt sich auf und schaut sich um. Wirklich schön hier. Es erinnert ihn an einen kleinen See in Maine in der Nähe von Waterville, wo Rhea in den frühen Achtzigern immer ins Ferienlager ging. Wie bei Rødenessjøen war die charakteristische Eigenschaft des East Lake seine schlichte, fast triviale Ruhe. Er war nicht überwältigend oder einzigartig. Es war kein Ort, für den man einen Umweg in Kauf nahm. Es war ein Zufluchtsort. Und genau das brauchen Paul und er heute Abend, mehr als alles andere – sie müssen zur nordwestlichen Ecke gelangen und einen ruhigen, sicheren Platz finden, an dem sie für die Nacht zusammenrollen können. Das wird ihr ganz persönliches Jackson’s Island, wo Huck und Jim sich erstmals begegneten und gemeinsam aufbrachen, als die Welt sich gegen sie verschwor.
    Das ist der Plan. Obwohl es noch früh ist, möchte er so weit wie möglich von dem Traktor entfernt das Lager aufschlagen, für den Fall, dass jemand gesehen

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