Ein seltsamer Ort zum Sterben
fände. Was bitte verwirrt uns mehr als Zeit, Menschen, Orte? Und nun zum dreiteiligen Finale. Ich habe keine Ahnung, was es heißt, die eigene Sicherheit zu vernachlässigen. Gemessen woran? Unter welchen Bedingungen? Beurteilt von wem? Ich bin mit dem Gesicht voran bei Sonnenaufgang auf dem Gelben Meer in einen Kugelhagel gepaddelt. War das nachlässig? Ich habe eine Frau geheiratet und bin bis zum Ende ihres Lebens bei ihr geblieben. Nennst du das Sicherheitsdenken? Und was Hygiene angeht – ich putze mir die Zähne und dusche jeden Tag. Der Einzige, der mich einen Dreckskerl nennen würde, ist jemand, der findet, dass ich hier nicht hingehöre und wahrscheinlich ein Antisemit ist, und die können mich mal. Und Ernährung? Ich bin zweiundachtzig und
noch am Leben
. – Wie war ich, Lars?»
«Besser hätte ich es nicht sagen können, Sheldon.»
Rhea erinnert sich an die Geschichte. «Er war klar im Kopf», sagt sie zu Lars, während sie von Sigrid gemustert wird. «Er ist hochintelligent. Er wollte es uns zeigen.»
Lars zuckt die Schultern. «Also, auf mich hat es Eindruck gemacht.»
«Okay, vielleicht ist es nicht wirklich Demenz. Aber er ist eigenartig. Sehr, sehr eigenartig. Und er spricht ständig mit den Toten.»
Noch während sie das sagt, wird ihr klar, dass sie Zweifel hat. Was auch immer da in seinem überlasteten Hirn vor sich geht, es ist kompliziert. Es kommt und geht. Sie weiß ja, dass es Sheldon nicht gutgeht. Dass Mabels Tod ihn total aus den Angeln gehoben hat. Dass er den Boden unter den Füßen verloren hat. Aber mehr kann sie dazu nicht sagen.
Sigrid hat aufmerksam zugehört: «Sie glauben nicht, dass er dement ist», sagt sie zu Lars.
Lars trommelt leise mit den Fingern auf den Tisch. Er möchte Rhea nicht in die Parade fahren. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Und nicht wenn es um ihre Familie geht. Aber er spürt, hier muss er etwas sagen. Zuvor fragt er sich allerdings, ob er Rhea eine goldene Brücke bauen kann, damit sie beide zum gleichen Schluss kommen. Dann könnte sie wieder übernehmen.
«Rhea hat ihm heute Morgen etwas erzählt. Etwas, das ihm nahegegangen ist.»
Sigrid schaut Rhea an und wartet.
«Ich hatte gestern Nacht eine Fehlgeburt. Ich wurde wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Ich war erst im dritten Monat. Heute Morgen habe ich es Großvater erzählt.»
Darauf antwortet diesmal Petter. «Das tut mir leid», sagt er.
Rhea nickt. Sie möchte nicht im Mittelpunkt stehen.
«Wir waren darauf vorbereitet», sagt Lars. «Aber Sheldon war es wohl nicht.»
Da Rhea weiter schweigt, fährt er fort:
«Ich glaube kaum, dass es Demenz ist. Sheldon hat alle Menschen überlebt, die er kannte, einschließlich seines eigenen Sohnes und seiner Ehefrau. Ich glaube, er kam wegen des Babys nach Norwegen. Wegen der Hoffnung, dass das Leben auch nach ihm weitergeht. Doch dann starb das Baby.»
«Was, glauben Sie, ist es dann?», fragt Sigrid.
«Eine Art Schuld, vermute ich. Vermutlich wird er von Schuldgefühlen geplagt, weil er überlebt hat. Zunächst einmal seinen Sohn Saul, Rheas Vater. Dann wohl einige ältere Freunde aus dem Zweiten Weltkrieg. Seinen Cousin Abe. Den Holocaust. Leute in Korea. Seine Ehefrau. Dieses Baby. Ich glaube, er kann nicht noch mehr Schuld auf sich laden. Sogar was die Koreaner angeht. Ich weiß, möglicherweise war er selbst gar nicht in Kampfhandlungen verwickelt, aber ich denke doch. Ich glaube nicht, dass es einfach irgendwelche Koreaner sind. Ich glaube, er sieht die Menschen, die er getötet hat, und kommt nicht damit klar. Obwohl es im Krieg war.»
Rhea ist anderer Meinung. «Mein Großvater fühlt sich nicht schuldig, weil er den Holocaust überlebt hat, glauben Sie mir. Allenfalls fühlt er sich schuldig, weil er nicht eine falsche Altersangabe gemacht und gegen die Nazis gekämpft hat.»
«Er war vierzehn, als Amerika in den Krieg eintrat. Er war noch ein Kind.»
«Warst du dabei?»
Sigrid schreibt sich das in ihr Notizbuch, neben anderen Beobachtungen zu Rhea und Lars und dem Zeitpunkt des Verschwindens.
Jetzt steht im Grunde nur noch eines auf der Tagesordnung.
«Was halten Sie davon?», fragt Sigrid und reicht Rhea die am Ort des Verbrechens entstandene Notiz.
Der Zettel liegt leicht in Rheas Hand, während sie ihn immer wieder durchliest.
«Das ist von meinem Großvater.»
«Und was, glauben Sie, steht da?»
«Es ist nicht so wichtig, was da steht. Wichtiger ist, was es bedeutet.»
«Ja. Okay.»
«Und genau deshalb sind
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