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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Wenn man so dahinschwebt. Schwerelos. Und dann hört man plötzlich, wie Metall auf die Hülle des Raumschiffs stößt. Der Feind streckt die Hand aus. Man greift mit dem Handschuh danach. Überstanden, endlich. Das hat mich an etwas von früher erinnert, an ein Gefühl. Ich weiß nicht, wie man so etwas nennt. Es war wie ein … so als würde man einen bestimmten Geruch wahrnehmen, und plötzlich stürmt die Welt von damals auf dich ein, die Zeit löst sich auf, und du bist wieder dort. Wie würdest du diesen Zustand nennen?»
    «Hoffnung.»
    «Du hättest Nachrichten schauen sollen.»
    «Ich weiß nicht, ob das jetzt eine Antwort ist oder nicht.»
    «Ich bin immer noch bei dir, Sheldon. Spielt es eine Rolle, weshalb?»
    «Ja.»
    «Warum?»
    «Ich muss wissen, wie zerbrechlich das alles ist.»
    «Es geht hier nicht um Wissenschaft, Donny.»
    «Ich arbeite gerade an einem schwierigen Fall. Im Laden. Eine Omega Speedmaster. Direkt unter der Hammerfeder sitzt eine zerbrochene Schraube. Ich muss die ganze Uhr zerlegen, um da ranzukommen, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es mir gelingen wird, sie wieder zusammenzubauen. Spezialanfertigungen von Uhrwerken sind ja immer etwas knifflig. Jedenfalls ist es dieselbe Uhr, die deine Astronauten da draußen tragen.»
    «Ist das ein Zufall?»
    «Es ist eine beliebte Uhr. Ich hatte selber eine, dann wollte Saul sie haben. Ich weiß nicht, wo sie geblieben ist.»
    «Schade. Ich liebe Zufälle.»
    «Gibst du mir die Schuld?»
    «Gibst du dir selbst die Schuld?»
    «Ja. Auf der ganzen Linie. Ich habe ihn mit Geschichten aus dem Krieg großgezogen. Habe ihm erzählt, ein Mann muss für sein Land kämpfen. Habe ihn ermutigt, sich freiwillig zu melden. Juden dürfen Russland nicht verlassen. Sie geben ihre Papiere ab, um emigrieren zu können, und werden auf die schwarze Liste gesetzt. Sie werden
refusniks
genannt. Sie leben wie nervöse Ratten. Wir leben wie Menschen. Weil wir nämlich Amerikaner sind. Und Amerika ist im Kriegszustand. Also, Johnny, geh und schnapp dir ein Gewehr – das habe ich zu ihm gesagt.»
    «Ja, das hast du erzählt.»
    «Sie rauchen Dope und hören sich Schallplatten an. Wir sind heute alle ein Haufen Lass-uns-die-Welt-verändern-Liberaler, habe ich zu ihm gesagt.»
    «Das hast du schon erzählt. Darüber brauchen wir nicht mehr zu reden.»
    «Ich musste meinem Kind doch Ideale einpflanzen.»
    «Ich weiß.»
    «Ich weiß noch, wie Harry James sein unfassbares Double-High-C gespielt hat, in der Carnegie Hall, 1938 . Mit dem Benny Goodman Orchestra. Niemand wusste, ob Jazz etwas taugt, ob die Musiker tatsächlich seriös genug waren, um einer Carnegie Hall würdig zu sein. Und dann diese Trompete. Die ganze Stadt flippte aus. Meinst du, dass heute auch nur eine einzige Note im ganzen Land zu hören wäre? Heutzutage zertrümmern sie ihre Gitarren auf der Bühne. Mein Sohn hätte Musiker werden können. Und ich schicke ihn stattdessen in den Krieg.»
    «Es lag nicht in seinem Naturell.»
    Sheldon schüttelte den Kopf.
    «Wenn er weinte und wir ihn hochnahmen, hatten wir Bedenken, dass er niemals selbständig würde. Was zum Teufel haben wir uns da gedacht?»
    «Ich bleibe bei dir, Sheldon. Ich finde, es reicht jetzt. Okay?»
    «Ja. Okay.»
    Und damit hatte es sich. Das war das letzte Mal, dass sie darüber sprachen. Wenn es da noch mehr zu sagen gab, dann nahm sie es mit ins Grab.

    Kurz bevor die Polizei kommt, gelingt ihnen die Flucht.
    Sheldon öffnete vorsichtig die Schranktür und lauscht angestrengt. Er lauscht mehrere Minuten. Lauscht, ob er das Knirschen von Glas auf der Treppe hört. Das Geräusch von Türen, die sich öffnen und wieder schließen. Er weiß, sie sind schutzlos, wenn man sie entdeckt, aber dagegen kann er nichts tun.
    Es war ein langer, schrecklicher Kampf. Der Junge hatte sein Gesicht an Sheldons Brust verborgen. Als es dann vorbei war, spürte Sheldon, wie ihn eine Welle der Scham und des Bedauerns überflutete, so mächtig und zwingend wie in den Jahren nach Sauls Tod. Jede andere Wendung der Ereignisse – sei es, dass er ihnen gar nicht aufgemacht oder sie nicht so lange am Eingang festgehalten hätte, sei es, dass er die Polizei gerufen oder sonst etwas getan hätte –, all das hätte in Sheldons Vorstellung dazu geführt, dass die arme Frau noch am Leben wäre, um ihren süßen kleinen Sohn aufzuziehen. Es ist, als ob er sie selbst umgebracht hätte.
    Jetzt öffnet er die Schranktür ganz und blickt sich im Zimmer um. Alles

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