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Ein seltsamer Ort zum Sterben

Ein seltsamer Ort zum Sterben

Titel: Ein seltsamer Ort zum Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Derek B. Miller
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Lars und ich uns nicht so ganz einig, was Sheldon nun genau hat.»
    Sigrid nimmt den Zettel wieder an sich und liest ihn, so gut sie kann, vor, ohne zu wissen, dass hier auf einen bestimmten Akzent angespielt wird:

    Nehm an, ich geh mal raus und sondier das Terrain, sonst adoptiern die mich noch und sievilisieren mich, und das hass ich. Hatt ich schon.
    Die Flussratten vom 59 . Breitengrad.

    «So», sagt Sigrid. «Das steht also drauf. Und was bedeutet das?»
    «Tja», sagt Rhea. «Ich habe keine Ahnung.»

4. Kapitel
    Sheldon hat den Angriff auf seinen Sohn in Vietnam nicht mit eigenen Augen gesehen. Aber er stellte ihn sich vor, immer, immer wieder. Er erschien zuverlässig in seinen Träumen, Nacht um Nacht um Nacht. Mabel rüttelte ihn dann wach. «Du hast geträumt», sagte sie. «Nein. Es war kein Traum.» – «Dann eben ein Albtraum. Es war ein Albtraum.» – «Nein, auch nicht. Es ist, als wäre ich dabei gewesen. Im Boot mit ihm. Auf dem Mekong, als er auf Patrouille war. Auf einem Nebenfluss, nachts. Ich kann den Kaffee schmecken. Meine Füße kribbeln.»
    Mabel war fünfundvierzig. Bis auf ihren Ehering und eine dünne Halskette aus Weißgold mit einem winzigen Diamantenanhänger daran schlief sie nackt. Sie hatte sie aus dem Verlobungsring schmieden lassen, den Sheldon ihr 1951 geschenkt hatte, und legte sie niemals ab.
    Mabel hatte kein Problem damit, mitten in der Nacht aufzuwachen. Die Panikattacken ihres Mannes störten sie nicht. Fünfundzwanzig Jahre zuvor hatte Saul sie immer wach gehalten, denn als Baby plagten ihn oft Koliken. Seitdem brauchte sie nicht mehr viel Schlaf. Seitdem Saul gestorben war, spielte es keine Rolle mehr.
    Sheldons Traum begann in einer Sommernacht in New York, 1975 . Saul war bereits unter der Erde. Mabel lag auf dem weißen Laken ausgestreckt. Sie war zierlich, aber kurvenreich und liebte es, ihren Körper zu dehnen, indem sie die Fußspitzen mit den Fingern berührte, bis alles kribbelte. Sie hielt die Position, bis sie einen Krampf bekam, und ließ dann los …
    So lagen sie im Dunkeln, beide wach.
    Donny lag ebenfalls nackt auf dem weißen Laken. Es war ein glühend heißer Sommer. Sie hatten keine Klimaanlage. Ein antiker Ventilator, der aussah, als sei er noch zu Kolonialzeiten aus Kenia importiert worden, drehte sich langsam an der Decke und drückte die heiße Luft nach unten.
    Mabel knipste die Nachttischlampe an.
    Das Gespräch hatte noch nicht stattgefunden. Donny hatte noch nicht die Frage gestellt, die ihn umtrieb. Er war, zumindest bis heute Abend, bereit gewesen, so weiterzumachen wie bisher. Am Morgen aufwachen, in den Uhrmacherladen gehen, eine Lupe aufsetzen und eine Spiralfeder ersetzen, ein Zahnrädchen ölen, eine Unruhwelle austauschen oder einfach eine neue Krone einsetzen. Ein Sandwich essen. Nach Hause kommen. Über dies und jenes reden. Eine Zeitung lesen. Eine Pfeife rauchen. Einen Drink nehmen. Schlafen gehen. Tag für Tag. Der Zeit in aller Ruhe erlauben zu vergehen, während er die Instrumente reparierte, mit denen sie gemessen wurde.
    Doch jene Sommernacht im Jahr 1975 war anders. Schwer zu sagen, warum. Vielleicht lag es an der Temperatur. Der Art, wie die Hitze in seinem imaginären Vietnam ihm auf die Lower East Side in New York folgte und wie der Schweiß aus dem Dschungel seine Bettlaken durchtränkte.
    Vielleicht war in ihm drin einfach nicht mehr genügend Platz für seine innere Welt, und sie drängte ohne Rücksicht auf Konsequenzen nach draußen.
    Als sie seine Hand nahm und seufzte, stellte Donny die Frage aller Fragen.
    «Warum bist du noch bei mir? Warum hast du mich nicht verlassen?»
    Soweit er sich erinnern kann, war seine Stimme ruhig. Gelassen. Aufrichtig. Sie kam aus einem unterirdischen Reservoir der Menschlichkeit, das leise und reglos in unserer kollektiven Seele haust.
    Es entstand eine lange Pause. Er blickte Mabels lackierte Zehen an, die sie abwinkelte. Sie hatte einen wunderschönen Spann.
    «Weißt du, woran ich gerade gedacht habe?», fragte sie.
    «Woran?»
    «An die beiden Raumschiffe, die einander in dieser unendlichen Leere gefunden haben.»
    «Ich weiß nicht, wovon du sprichst.»
    Sie wandte ihm den Kopf zu und runzelte die Stirn. «Schaust du nie Nachrichten?»
    «Ich war ziemlich beschäftigt.»
    «Die
Apollo
und das russische Raumschiff. Die
Sojus
. Vor zwei Tagen haben sie angedockt. In dem großen Schweigen dort draußen haben sie sich verbunden. Ich frage mich, was das wohl für ein Geräusch macht.

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