Ein seltsamer Ort zum Sterben
Und war fortan ein guter Mann.
Du hast nicht vermutet, dass ich dieses ganze Zeug weiß, was? Doch, ich weiß es, es fragt bloß niemand danach. Zum Glück habe ich ein reiches Innenleben. Und jetzt habe ich dich.
Wie wäre es, wenn ich dich Paul nenne? Ein verwandelter Junge? Hingefallen und wiederaufstanden? Der Christ als Wiedergeburt des gefallenen Juden. Wäre dir das unangenehm? Das wäre mein kleiner Privatscherz. Das sind ja immer die besten.
Na gut. Komm, verstecken wir uns im Kino.»
Es fällt Sheldon schwer, sich daran zu erinnern, wann er zum letzten Mal die klebrige Hand eines kleinen Jungen in seiner eigenen Hand hielt. Die dicklichen Fingerchen und der leichte und doch zielgerichtete Druck. Das Vertrauen und die Verantwortung.
Rhea und Lars stehen schweigend vor der Polizeiwache. Sie können überallhin gehen, müssen aber ständig erreichbar sein. Lars sieht den Autos beim Vorbeifahren zu. Rhea beißt sich ein Stück Haut von den Lippen, nimmt es in die Finger und schnippt es in die leichte Brise. Beide stehen ein paar Minuten einfach so da. Schließlich sagt Lars etwas.
«So, und jetzt?»
«Ich weiß es nicht», sagt sie.
«Wir könnten mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren und nach ihm Ausschau halten», schlägt Lars vor.
«Ich fasse es nicht, dass er kein Handy hat.»
«Er wollte keins. Wir würden ihm damit nur nachspionieren.»
«Und wir haben das durchgehen lassen.»
«Nur weil er das Haus nie verlassen hat.»
«Jetzt hat er es verlassen», sagt Rhea.
Noch ein paar Autos fahren vorbei, eine dicke Wolke zieht am Himmel vorüber, eine plötzliche Kühle. Es ist eine Erinnerung daran, wie groß die Entfernung ist, die sie zurückgelegt haben. Wie weit weg von zu Hause sie sind.
«Ja, das hat er», sagt Lars. «Das hat er allerdings.»
5. Kapitel
Es ärgert Sheldon ungemein, dass Kinos in Oslo Platzkarten ausgeben.
«Glaubt ihr, wir können das nicht selbst entscheiden? Dass man uns überwachen muss? Uns Anweisungen geben?»
Das sagt er zu dem unschuldigen Mädchen hinterm Kassentresen.
Sie runzelt ihre pickelige Stirn.
«Ist es dort, wo Sie herkommen, anders?»
«Jawohl. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.
Survival of the fittest.
Das Gesetz des Dschungels. Wo Wettbewerb zu Kreativität führt und Konflikte zu Genieblitzen. Im Land der Freiheit sitzen wir, wo wir wollen. Wir sitzen, wo wir
können
.»
Sheldon schnappt sich sein Ticket und geht grummelnd weg. Er grummelt über die Temperatur des Popcorns, die Entfernung zwischen den Toiletten und dem Kinosaal, die Staffelung der Sitze und die Durchschnittsgröße des durchschnittlichen Norwegers, die weit über dem Durchschnitt liegt.
Gerade als er zu grummeln aufhört – in dem kurzen Augenblick, in dem er Luft holt –, holt der Mord ihn ein und nimmt ihn in Beschlag.
Mit dem Problem ist er auf einer höheren Ebene gut vertraut. Hier blitzt es nur kurz auf. Die Geschichte selbst droht beständig, sich seiner zu bemächtigen und ihn unter ihrem Gewicht zu begraben. Das ist keine Demenz. Das ist
Sterblichkeit
.
Die Stille ist der Feind. Sie reißt die Mauer der Zerstreuung ein, wenn man sie lässt.
Juden wissen das, denkt er. Deshalb hören sie niemals zu reden auf. Bei all dem, was wir durchgemacht haben – sobald wir auch nur eine Sekunde innehalten, sind wir erledigt.
Zu Paul gewandt, sagt er: «Ich weiß nichts über diesen Film, außer dass er zwei Stunden dauert, und danach werden wir dir die teuerste Pizza der Welt bei Pepe’s kaufen und im Hotel Continental die Nacht über königlich entspannen. Es ist in der Nähe des Nationaltheaters. Ich bin mir sicher, dass das Grand Hotel ausgebucht ist, deshalb nehmen wir das Continental. Es ist der letzte Ort, an dem sie nach uns suchen werden, weil ich für gewöhnlich nicht dort herumgeistere. Ich finde aber, wir haben heute Nacht ein wenig Ruhe verdient.»
Dann ist der Vorfilm zu Ende, und der Hauptfilm beginnt. Es geht um ein Raumschiff, das unterwegs zur Sonne ist, um die Welt zu retten. Der Film beginnt mit phantastischen Szenen, gleitet dann aber in Richtung Horror ab, in Richtung Tod.
Sheldon schließt die Augen.
Präsident Carter war gerade nicht mehr im Amt, als 1980 die freigelassenen Geiseln aus dem Iran zurückkehrten. Am Tag von Ronald Reagans Vereidigung stiegen von Teheran aus die Flugzeuge mit jenen Amerikanern an Bord auf, die hundertvierundvierzig Tage in Gefangenschaft hinter sich hatten. Die Kameras filmten Reagan, wie er im Nieselregen den
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